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„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat – zu Gottes Lob!“ (Röm 15,7)

Gedanken zur Jahreslosung 2015

von Pfr.Winfrid Krause, Thalfang

Die Worte „Annahme“ und „Akzeptanz“ haben einen guten Klang. Als soziale Wesen möchten die meisten Menschen nicht abgelehnt oder ausgegrenzt, sondern angenommen und geliebt werden. Das griechische Wort proslambanein bedeutet „in die Hausgemeinschaft aufnehmen“, wie es Paulus und seinen Gefährten nach dem Schiffbruch auf der Insel Malta erlebten (Apg 28,2.7) und der Apostel Philemon bittet, seinen entlaufenen Sklaven Onesimus wieder bei sich aufzunehmen (Phlm 12.17). Jesus benutzt eine solche Szene – die Heimkehr des verlorenen Sohnes – , um das Reich Gottes, seines Vaters, zu beschreiben (Lk 15,11-32).

Aber um welchen Personenkreis geht es und um welche Annahme? Um Familienangehörige, Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde, Fremde, Feinde? Muß ich jeden Bettler in mein Wohnzimmer bitten? Im Kontext geht Paulus in seinem wichtigsten Brief an die ihm unbekannte römische Gemeinde nach der Darlegung des christlichen Glaubens (Kap.1-11) und allgemeinen Ermahnungen (Kap.12-13) vor dem Briefschluß zur speziellen Paränese über (Röm 14,1-15,13). Es gab in der Christengemeinde der Hauptstadt, die der Apostel nicht sebst gegründet hatte, aber von der er wohl einiges gehört hatte, nicht nur Judenchristen und Heidenchristen (1,16; 2,12; 3,9.29f.; 9,24; 11,13.25; 15,8f.), sondern auch „Starke“ und „Schwache“ - Gruppen und Parteien, die nicht unbedingt identisch waren. Man stritt sich etwa, ob man nur „Gemüse“ und kein Fleisch (14,2) essen oder „Wein“ (14,21) trinken dürfe, und um die Beachtung bestimmter Fasten- oder Festtage (14,5f.). Anders als in Korinth geht es offenbar nicht um die Frage, ob Christen Fleisch kaufen und essen dürfen, das zuvor heidnischen Götzen geopfert worden war (1.Kor 8,1ff.; 10,14ff.), sondern um grundsätzlichen Vegetarismus und Alkoholabstinenz (E.Käsemann, An die Römer, 1974, 355). Unklar ist, ob es sich um jüdische Tagesvorschriften oder heidnischen Aberglauben an Sterne und (Stern-) Dämonen und entsprechende Glücks- oder Unglückstage handelt (vgl. Gal 4,3.10; Kol 2,8.16.20 stoiceia tou kosmou). Dabei mögen sowohl jüdische wie heidnische Gesetze und Vorschriften nachgewirkt haben, die eigentlich für Christen ihre Gültigkeit verloren haben, denn „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Röm 10,4), „der Mensch wird gerecht ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Röm 3,28) und „das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist“ (Röm 14,17).

Paulus teilt zwar die Erkenntnis der „Starken“ („wir“ Röm15,1), daß es diese Götter gar nicht gibt (1.Kor 8,4ff.), ihre Gesetze keine Bedeutung haben und insofern in diesem Bereich „alles rein“ und „alles erlaubt“ ist (Röm 14,14.20; 1.Kor 3,21ff; 6,12ff.; 10,23ff.; vgl. Mk 7,15). Aber er geht hier auf die strittigen Fragen inhaltlich gar nicht ein, sondern relativiert sie im Hinblick auf den Herrn, dem Christen im Leben wie im Sterben gehören (Röm 14,7ff.), und die Einheit und den Aufbau der Gemeinde (Röm 14,19; 15,2.5f.; vgl.M.Wolter, Paulus, 2011, 325f.), fordert zur Rücksicht auf die Gewissen auf (Röm 14,20ff.; 1.Kor 8,7ff.) und ermahnt die Mehrheit(?) der Starken, die Minderheit (?) der Schwachen im Glauben „anzunehmen,...denn Gott hat ihn/sie angenommen.“(Röm 14,1.3). Im Hintergrund steht die Rechtfertigungslehre des Apostels, nach der alle Menschen, Juden und Heiden, offensichtliche Gesetzesübertreter wie selbstgefällige Pharisäer (Röm 15,1ff.) Sünder sind und vor dem Richterstuhl Gottes bzw. Christi erscheinen müssen (Röm 14,10; 2.Kor 5,10; vgl. Mt 7,1ff.), aber um des Sühnetodes Jesu willen gerechtfertigt und in Gnade „angenommen“ werden, wenn sie an den gekreuzigten und auferweckten Sohn Gottes glauben (Röm 3,21ff.). Deshalb sind das Gesetz und die Werke grundsätzlich für das religiöse Heil irrelevant, die Gerechtigkeit des Glaubens der Gegensatz zur Sünde (Röm 14,23), verschiedene ethische Meinungen in der Gemeinde möglich und zu dulden und kein Grund, den Mitchristen zu „richten“ oder zu „verachten“ (Röm 14,3f.10ff.). Deshalb herrscht Freiheit (Röm 6,22; 8,2.21; 1.Kor 7,22; 9,1; 10,29; 2.Kor 3,17; Gal 2,4; 4,26; 5,1ff.; R.Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 19777, 331-353) im Umgang mit Äußerlichkeiten und Adiaphora und „Liebe“ (Röm 14,15) zwischen den Christen. Das im Glauben ergriffene Urbild Jesu Christi wird zum Vorbild des Zusammenlebens in der Liebe: so wie Christus nicht an sich selbst Gefallen hatte, sondern Schmähungen, Spott und Blasphemien auf sich nahm (Ps 69,10; Mk 14,64ff; 15,3ff.16ff.29ff.par), so sollen Christen nicht an ihren ethischen Überzeugungen und Lebensweisen Gefallen haben, sondern auch andere Ansichten und Kritik ertragen und so zum Frieden in der Gemeinde beitragen (Röm 15,1ff.). Und diese zunächst innergemeindliche Lebenshaltung im Alltag der Welt auch auf andere Bereiche übertragen und Menschen mit anderen Auffassungen in Familie und Gesellschaft „annehmen“.

Die komplizierten historischen Details und die hochtheologischen Reflexionen des Apostels Paulus können und müssen heute gewiß nicht allen Christen vermittelt werden. Dennoch ist es wichtig, zu wissen, daß das Wortfeld „annehmen“ in der Bibel eine Ableitung und Anwendung der „Rechtfertigung“ vor Gott und den Menschen darstellt. Aus der Lutherbibel hier nur die wichtigsten Beispiele: Jakob hofft, daß sein Bruder Esau ihn „annehme“ (Gen 32,21) Gott will Israel „annehmen“ zu seinem Volk (Ex 6,7) Gott hat von allen Menschen und Völkern nur Israels Väter „angenommen“, daß er sie „liebte“, und ihre Nachkommen „erwählt“ (Dtn 10,15) was ist der Mensch, „daß du sich seiner annimmst“? (Ps 8,5; 144,3) „du nimmst dich meiner an in Not“ (Ps 31,8; 142,4) du „nimmst mich am Ende mit Ehren an“ (Ps 73,24) „Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen“ (Jes 38,17) „Ich will euch gnädig annehmen“ (Hes 20,40f.) „Ich nahm mich ja deiner an in der Wüste“ (Hos 13,5) Jesus „nimmt die Sünder an“ (Lk 15,2) „der/die eine wird angenommen, der/die andere wird preisgegeben werden“ (Lk 17,34ff.par) „nehmt euch der Nöte der Heiligen an“ (Röm 12,13) „so will ich euch annehmen und euer Vater sein“ (2.Kor 6,17f.) ihr habt euch „meiner Bedrängnis angenommen“ (Phil 4,14) „ihr habt das Wort unter großer Bedrängnis angenommen“ (1.Thess 1,6) „weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat er's gleichermaßen angenommen“ (Hebr 2,14)

Dazu lassen sich viele weitere Beispiele aus der heutigen Lebenswelt nennen: Soll ich einen schwierigen Mitarbeiter in der Gemeinde die alte Diakonisse, die am Ewiggestrigen hängt die Konfirmanden, die im Unterricht wenig mitmachen und häufig stören, meine chronisch unzufriedene Ehefrau ein behindertes Kind den pflegebedürftigen, eigensinnigen Schwiegervater im Haus die alternativ-vegetarische Freundin meines Sohnes meinen politischen Gegner oder konkurrierenden Parteifreund den langzeitarbeitslosen, arbeitsscheuen Nachbarn (Hartz-IV) die nicht überprüfbare Gründe vorgebenden Asylbewerber den obdachlosen Bettler, der an der Tür klingelt, den Türken neben mir an der Theke, der immer noch kein Deutsch kann, annehmen? Kann, soll, muß man als Christ „um des leben Friedens willen“ alles tolerieren, vergeben und verzeihen und jeden Menschen annehmen, so wie er ist? Ich habe bewußt sperrige Beispiele ausgesucht, um das Problem zu verdeutlichen.

In der Kirche haben wir in den letzten Jahren heftige Diskussionen um ideologisch aufgeladene Fragen erlebt: Soll man Frieden schaffen mit oder ohne Waffen? Gerade pazifistische Friedenskämpfer konnten dabei oft unfriedlicher werden als christliche Soldaten. Darf die Kirche Schwule oder Lesben trauen, obwohl Homosexualität in der Bibel einhellig abgelehnt wird? Manche machten aus dieser menschlich nicht einfachen Frage aus Pro und Contra einen status confessionis und verurteilten anders denkende Mitchristen. Ist die leichte Klimaerwärmung der letzten Jahrzehnte ein normaler Vorgang, eine gefährliche Entwicklung, eine apokalyptische Sintflut? Ist die Energiewende politisch sinnvoll, wirtschaftlich zu verkraften, zur Bewahrung der Schöpfung notwendig? Auch diese Diskussionen haben oft zu verhärteten Fronten und Ablehnung in den Gemeinden geführt.

„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat – zu Gottes Lob!“ Christen wissen, daß wir Menschen alle Sünder sind und der Buße bedürfen. Aber nur, wer an Gott glaubt, ihm seine Fehler bekennt und sie bereut, wird sich bessern. Die Kraft dazu gibt uns die Annahme durch Jesus Christus, seine vom Kreuz ausgehende Sündenvergebung und der Hl.Geist, der uns Einsicht, Glaube, Liebe, Geduld und Lebensmut schenkt. Weil Gott uns in seinem Sohn „angenommen hat“, weil das Evangelium uns Gottes vergebende Liebe gibt, können wir auch unseren Nächsten annehmen, - in der Familie, in der Gemeinde, aber dann auch in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz und wo sonst Menschen uns begegnen, von denen wir gar nicht wissen, was sie glauben oder wer sie eigentlich sind. Absicht und Ziel der Liebe Gottes, die Weihnachten in der Geburt Jesu Mensch geworden ist, ist nicht Spaltung und Streit, sondern Gemeinschaft und „Frieden“ (Röm 14,17). Dann kann man im Gottesdienst mit „Freude“ und im Hl.Geist Gott loben und die Ehre geben. Und die Liebe Gottes, die so hörbar wird und Gestalt gewinnt, zieht dann in der Welt weite Kreise.

Man kann diese kurze, prägnante, ansprechende Jahreslosung übrigens auch trinitarisch verstehen: Wenn Christen sich annehmen, wirkt der Geist der Liebe; Christus, der unser Menschsein und uns Sünder angenommen hat, ist Sohn Gottes; wo Glaube an ihn und Nächstenliebe geschehen, wächst die Kirche aus Juden und Heiden zu Gottes, des Vaters, Lob!

Lied: EG 353

Pfarrer Winfrid Krause, Thalfang



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