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Ist die evangelische Kirche wirklich Kirche?
Die Äußerungen aus Rom als Anlass, die wirklichen Defizite nach innen und nach außen zu erkennen
Pfr. Thomas Berke

Am vergangenen Dienstag meinte die römische Glaubenskongregation mit ausdrücklicher Zustimmung Papst Benedikt XVI. feststellen zu müssen, dass die evangelischen Kirchen keine „richtigen“ Kirchen seien, da ihnen wichtige Dinge zum Kirche-Sein angeblich fehlten. Dies ist nicht neu, aber es ist eine ungeheure Brüskierung der evangelischen Christenheit, die zum wiederholten Mal gezielt von Rom geäußert wurde. Da wird einfach aufgezählt, was nach römischem Verständnis eine Kirche haben muss, nämlich die Anerkennung des Primates des Bischofs von Rom als Papst und Oberhaupt und die apostolische Sukzession, die ununterbrochene Kette der Amtsträger bis zu den Aposteln, um dann festzustellen, dass die Evangelischen Kirchen all dies nicht haben, also defizitär seien, also keine richtige Kirche seien.

Biblische Einsicht statt falscher Kriterien

Diese Argumentation ist genauso schief, als wenn der Deutsche Handballbund erklären würde, dass allein Handball die wahre und richtige Sportart sei und alle anderen Sportarten kein richtiger Sport seien, wenn da nicht Handball gespielt werde. Fußball wäre dann kein richtiger Sport, 100-Meter-Lauf kein richtiger Sport, Diskuswerfen kein richtiger Sport usw. Wir merken: Da wurde das Besondere mit dem Allgemeinen verwechselt. Aber so macht es die römisch-katholische Kirche. Sie erklärt ihre konfessionelle Besonderheit mit Papst und Sukzession zum Wesentlichen der Kirche. Und das geht nicht! Es ist sonnenklar, dass die evangelische Kirche nach diesen beiden Kriterien keine echte Kirche sein kann. Genauso wie Fußball kein richtiger Sport sein kann, wenn Handball der Maßstab ist.

Unsere Reformatoren waren ebenfalls mit diesen Argumenten konfrontiert. Es war für sie jedoch eine entscheidende biblische Einsicht, dass gerade diese beiden Kriterien in der Bibel gar keinen Anhaltspunkt haben, sondern lediglich menschliche Traditionen sind. Und da ging ihnen ein Licht auf, vergleichbar mit der Entdeckung des ursprünglichen Sinns von Sport in einer Situation, wo der Handball bestimmt hätte, was Sport ist.

Im Grunde ist es eine Dreistigkeit ohnegleichen, wenn Rom die evangelische Kirche und die anderen Kirchen an diesem Maßstab beurteilt. Hier wird uns ein Defizit eingeredet, das gar nicht besteht! Denn wir sind Kirche durch das Evangelium, soweit „das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche.“ So sagt es das Augsburger Bekenntnis von 1530 in Artikel 7. Und es wird klärend hinzugefügt: „Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden.“

Der Grund der Kirche

Grund der Kirche ist das, was von Christus eingesetzt wurde, nämlich, Evangelium, Taufe und Abendmahl. Zur Einheit der Kirche ist nur nötig, darin überein zu stimmen. In der Konsequenz heißt das: An menschengemachten Traditionen (zu denen die apostolische Sukzession, das Papstamt und die verschiedenen Gottesdienstformen gezählt werden) kann die Einheit der Kirche nicht zerbrechen. Das kann die Kirche aushalten. Wo aber etwas anderes als das reine Evangelium gepredigt und/oder Taufe und Abendmahl abweichend vom Evangelium gereicht werden, da zerbricht die Einheit der Kirche.

Das Augsburger Bekenntnis von 1530 hat hier aus der Mitte der Bibel auf den Punkt gebracht, was Kirche zur Kirche macht: nämlich Evangelium, Taufe und Abendmahl. Zugleich ist eine ungeheure Weite da, die offen ist für ganz unterschiedliche von Menschen gemachte und lieb gewonnene Traditionen, soweit sie nicht im Widerspruch zum Evangelium stehen. Und dies bedeutet: Wenn es ein Defizit gibt, so dass eine Kirche nicht wirklich Kirche ist, dann ist das eine verfälschte, verkürzte, verwässerte Verkündigung des Evangeliums sowie eine unevangelische Sakramentspraxis bei Taufe und Abendmahl.

Da kann man uns packen! Da kann jede Kirche gepackt werden. Denn das ist der echte Maßstab. Die Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin sprachen darum lieber von der evangelischen Sukzession, also von der korrekten Weitergabe des ursprünglichen Evangeliums als inhaltlichem Kriterium.

Wirkliche Defizite

Wenden wir dieses Kriterium an, dann entsteht ein ganz anderes Bild. Dann sehen wir wie die Reformatoren ein Evangeliumsdefizit in der römisch-katholischen Kirche. Wir können mit Paulus sagen (vgl. Römer 1, 14f): „Wir schulden allen Menschen das Evangelium; darum sind wir willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen.“

Wird in der römisch-katholischen Kirche den Menschen das ursprüngliche Evangelium von Jesus Christus verkündigt, das die Gewissen befreit und Trost und Gewissheit gibt? Wird klipp und klar gelehrt, dass Jesus Christus alles, aber wirklich alles für uns bezahlt hat? Oder wird gesagt, dass man doch noch von menschlicher Seite etwas dazu tun müsse? Man denke nur an die von Papst Johannes Paul II. verkündigten „Ablässe“. Da besteht der Unterschied zwischen katholisch und evangelisch bis zum heutigen Tag.

Jedoch: Wir sollten nicht selbstgefällig sein. Ich möchte einmal die provokante Frage stellen: Hätte Rom uns bei dem Kriterium „reines Evangelium“ gepackt und uns befragt, was wäre denn da heraus gekommen? Leider nicht viel Gutes. Denn es gibt hier, wie man landauf landab sieht, an dieser Stelle ein großes Defizit in unserer Kirche. Wie viele Pfarrer predigen Psychologisches, Politisches oder tridentinische Rechtfertigungslehre anstelle des Evangeliums! Wie oft werden Taufe im Namen einer „Mutter“ vollzogen, Gottesdienst im Namen von weiblichen Gottheiten gehalten und das Abendmahl evangeliumswidrig entstellt. Dies trifft sich mit einer Evangeliumsvergessenheit in unseren Gemeinden, das Evangelium wird durch andere Einflüsse verdunkelt in Verkündigung und Lehre. Welche Pfarrer, Gemeindeglieder, Mitglieder der Kirchenleitungen, Landessynoden, Kreissynoden wissen denn noch um das ursprüngliche Evangelium, für das die Reformatoren eingetreten sind? Wie vielen Konfirmanden wird es heute noch beigebracht, worauf es ankommt im evangelischen Glauben? Da ergibt sich ein erschreckendes Bild.

Unsere evangelische Kirche hat leider an dieser Stelle große Defizite. Nicht bei den römischen Kriterien, sondern in Sachen Evangelium! Das müsste uns alarmieren und aufrütteln. Stattdessen gibt es einige, die nach diesem Wort aus Rom umso heftiger überlegen, wie man als evangelische Kirche sich dem Papst unterstellen und an der apostolischen Sukzession teilhaben kann. Aber das ist ein Irrweg!

Wir sollten lieber alle Kraft darauf verwenden, das Evangelium glasklar zu verkündigen. Für alles mögliche wird in unserer Kirche Kraft, Zeit und Geld aufgewendet. Besser wäre es, zu überlegen: Wie erreichen wir mit dem unverfälschten Evangelium die Menschen von heute, die Kinder, die Konfirmanden, die Erwachsenen, die Senioren, auch die, die nicht zur Kirche kommen? Denn auf der Verkündigung des Evangeliums und auf einer evangeliumsgemäßen Tauf- und Abendmahlspraxis liegen alle Verheißungen für eine Erneuerung der Kirche.

Wo etwas anderes gepredigt wird als das Evangelium, und das ist leider auch in vielen evangelischen Gottesdiensten der Fall, da zerbricht die Einheit der Kirche. Wo „die Ewige“, „Gott als Mutter“ oder eine „Geistkraft“ in den Gottesdiensten angebetet wird, zerbricht die Einheit der Kirche. Wo auf einen anderen Namen getauft wird als auf den Namen des Vater, des Sohnes und des Hl. Geistes, da zerbricht die Einheit der Kirche. Wo das Abendmahl anders gefeiert wird als von Jesus eingesetzt wurde, da zerbricht die Einheit der Kirche. Wo das ursprüngliche Evangelium gepredigt wird, wird eine neue Einheit in der Wahrheit entstehen und die Kirche wird wachsen und leben.

Und was dieses Evangelium inhaltlich ist, können wir in Artikel 5 des Augsburger Bekenntnisses lesen: Das Evangelium „lehrt, dass wir durch Christi Verdienst, nicht durch unser Verdienst, einen gnädigen Gott haben, wenn wir das glauben.“ Wie es Paulus an die Römer schreibt (Römer 1, 16f): „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben .... Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben ..“

Pfarrer Thomas Berke, Mülheim (Mosel), 15.07.07



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