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Die Muslime und ihre Heilige Schrift – dargestellt an der Frage nach Frieden und Gewaltbereitschaft

Dr. Christine Schirrmacher am 28. 1. 2003
Ev. Johanneskirche Leverkusen-Manfort

Von der Konventstagung im März 2002 in Brühl ist die Islamwissenschaftlerin Dr. Christine Schirrmacher unserem Konvent in guter Erinnerung. Im Januar 2003 hat sie in der Ev. Kirchengemeinde Leverkusen-Manfort einen Vortrag zum Thema "Die Muslime und ihre Heilige Schrift - dargestellt an der Frage nach Frieden und Gewaltbereitschaft" gehalten. Mit ihrer freundlichen Genehmigung veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Vortragsmitschrift.

In diesem Zusammenhang möchten wir auf das doppelbändige Werk über den Islam hinweisen, das Frau Dr. Schirrmacher geschrieben hat. Titel "Der Islam 1" und "Der Islam 2". Es ist im Hänssler-Verlag erschienen,  ISBN 3-7751-2132-3 und 3-7751-2133-1. Dieses Werk bietet eine umfassende, auch für Laien verständliche und im theologischen Urteil außerordentlich versierte Information über den Islam. Es zeichnet sich durch eine Fülle von Originalzitaten aus, so daß der Leser Gelegenheit hat, die vorgetragenen Interpretationen an den Quellen selbst zu verifizieren. Unbedingt empfehlenswert!

Weitere Texte von Frau Dr. Schirrmacher sind zu finden unter www.bucer.de/islam und unter www.islaminstitut.de.
Zur Person von Dr. Christine Schirrmacher



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Die Muslime und ihre Heilige Schrift – dargestellt an der Frage nach Frieden und Gewaltbereitschaft

Dr. Christine Schirrmacher am 28. 1. 2003, 19.30 Uhr
Ev. Johanneskirche Leverkusen-Manfort
Vortragsmitschrift

Guten Abend meine Damen und Herren,

ich freue mich, daß ich heute bei Ihnen sein und zu einem Thema sprechen kann, was uns, wie ich glaube, gleichermaßen angeht, Christen ebenso wie Muslime. Es geht um die Rolle und das Selbstverständnis der Heiligen Schrift, der Bibel und des Korans. Ich werde versuchen, auch auf das Thema „Jihâd“ etwas einzugehen. Ich möchte darüber hinaus einige andere Themen streifen, werde aber in der Kürze der Zeit manches nur anreißen können. Themen, zu denen darüber hinaus Fragebedarf besteht, können vielleicht im anschließenden Frage- und Diskussionsteil noch vertieft werden.

Einleitung

„Die Muslime und ihre Heilige Schrift – dargestellt an der Frage nach Frieden und Gewaltbereitschaft“, dieses Thema ist mir für heute abend gestellt worden. Es geht also in erster Linie darum, welche Auffassungen Christen von ihrer Heiligen Schrift, der Bibel, und welches Verständnis Muslime vom Koran haben. Natürlich bin ich mir darüber im klaren, daß es hier eine Bandbreite an Auffassungen gibt. Gewisse Verallgemeinerungen lassen sich aber in der Kürze der Zeit nicht ganz vermeiden. Es geht heute abend um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem christlichen und muslimischen Verständnis ihrer Heiligen Schrift, um unterschiedliche Inhalte in Bibel und Koran und um einige Folgerungen, die sich daraus ergeben. Selbstverständlich soll auch berücksichtigt werden, was der Koran und die Bibel selbst über sich aussagen und wie sie sich selbst darstellen.

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Die Bedeutung des Schriftverständnisses für die Religionen

Das Schriftverständnis beider Religionen, also die Auffassung von der eigenen und der anderen Heiligen Schrift ist meiner Ansicht nach beileibe kein trockenes Thema, denn der Glaube an die Wahrheit der Heiligen Schrift ist im Islam wie im Christentum lebendig. Im Christentum wird das überall dort deutlich, wo Menschen sich in Gemeinden um die Bibel versammeln, obwohl sie oft totgesagt wurde. Noch heute wenden Menschen diese Schrift auf ihr Leben heute, hier und jetzt an. Auch die Existenz dieser Gemeinde ist schließlich ein Beispiel dafür und alle, die zu ihr gehören. Erstaunlicherweise - so möchte ich noch in Klammern hinzufügen - wachsen weltweit christliche Gemeinden dort schnell und gewinnen neue Glieder hinzu, wo die Bibel, die Heilige Schrift der Christen, eine wichtige Rolle spielt, wo sie zu den Fragen des alltäglichen Lebens konsultiert wird und nicht als verstaubtes Buch betrachtet wird, das man im Schrank aufbewahrt.

Die Bibel ist bis heute das am meisten gelesene Buch, das in die größte Zahl an Sprachen übersetzte Buch der Geschichte. Sie ist das am häufigsten gedruckte verkaufte und gelesene Werk der Weltliteratur. Die Bibel ist keineswegs ein totes Buch: das Wort Gottes lebt und verändert auch heute Menschen und Situationen.

Im Islam ist die Kraft des Glaubens an den Koran und die Wahrheit des Islams ebenso ungebrochen, was man nicht nur daran erkennt, daß sich auch der Islam ausbreitet - nicht nur in Schwarzafrika - sondern auch in anderen Ländern. Auch die Koranverbreitung nimmt in der jüngeren Vergangenheit zu, Koranschulen werden sowohl hier in Deutschland als auch andernorts rege besucht. Die Wertschätzung des Korans wird auch daran deutlich, daß im islamischen Bereich, ganz allgemein gesprochen, eine offizielle Korankritik, gelehrt von den Kathedern der Universitäten und von islamischen Theologen, nicht existiert. D. h., der Glaube an die ungebrochene Autorität des ganzen Korantextes, so wie er niedergeschrieben wurde bzw. uns heute zur Verfügung steht, ist lebendig und wird im islamischen Bereich weithin nicht angezweifelt.

Man hat bereits prophezeit, daß das 21. Jahrhundert das Jahrhundert der Religionen werden wird. Manche Philosophen und Zeitanalytiker haben die Auffassung vertreten, Religion sei etwas, das der Vergangenheit, etwa dem Mittelalter, angehört und für die Moderne eigentlich keine Bedeutung mehr hat. Manche Menschen sind der Auffassung, daß der moderne Mensch auch ohne Religion leben und mit Technik und Fortschritt allein zurechtkommen kann. Dieser Schein trügt jedoch: Der Glaube ist lebendig, Religionen gewinnen Anhänger, und Menschen finden ihren Lebenssinn darin.

Wenn wir uns also mit dem Glauben an die Heiligen Bücher beschäftigen, ist das auch deshalb von Bedeutung, weil die Heiligen Schriften Grundlinien für Lehre und Leben festlegen, an denen sich die Gläubigen ausrichten. Die Theologie (gewissermaßen die theoretische Kenntnis von Gott und den Menschen) wird ebenso durch die Heiligen Schriften bestimmt wie die Praxis. Die Heiligen Bücher bestimmen die Haltung des Menschen zur Gesellschaft, zu seiner Familie, zur Umwelt, zur eigenen Person. Sie teilen dem Menschen Wissen von Gott mit, sie sprechen über das Diesseits - wie man sein Leben hier auszurichten hat - ebenso wie über das Jenseits. Und auch das Engagement des einzelnen im Hier und Heute, in seiner Gesellschaft und Umwelt hängt vom Schriftverständnis ab. Daher ist eine Beschäftigung mit dem Thema „Heilige Schriften“ sowie ein Vergleich zwischen biblischen und koranischen Inhalten sinnvoll und notwendig. Die Heiligen Schriften nehmen auch Stellung zum Thema „Frieden und Gewalt“.

Gerade dieses Thema ist für uns vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse nicht uninteressant. In Deutschland leben derzeit ungefähr 3,5 Millionen Muslime. Davon kommen über 2 Millionen Menschen aus der Türkei. Auch durch die weltweite Situation (die Terroranschläge des 11.9. 2001) entsteht ja die Frage, welche Aussagen eigentlich die Schriften anderer Religionen zum Thema Frieden und Gewalt machen (heute beschäftigen wir uns in besonderer Weise mit dem Islam).

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Bezüge zwischen Koran und Bibel

Das Schriftverständnis des Islam und des christlichen Glaubens miteinander zu vergleichen, setzt gewissermaßen voraus, das man beides aufeinander beziehen kann und man keine künstliche Beziehung herstellen muß. Vielleicht können auch Gemeinsamkeiten gefunden werden, denn schließlich sind – historisch betrachtet keine zwei anderen Religionen so nah miteinander verwandt wie der Islam und das Christentum, wenn man einmal von der Verwandtschaft zwischen Christentum und Judentum absieht.

Außerdem teilen sich der Islam und das Christentum heute Platz 1 und 2 der „Hitliste“ der Weltreligionen: Das Christentum hat heute ungefähr 2 Milliarden Anhänger und wird vom Islam mit etwa 1,2 Milliarden Anhängern gefolgt. Interessant ist allerdings die Tatsache, daß der christliche Glaube sich vor allen Dingen durch Zeugnis (christliche Missionsarbeit und Diakonie) ausbreitet – also durch „Überzeugungsarbeit“ -, der Islam dagegen vor allem durch hohe Geburtenzahlen, bireligiöse Eheschließungen sowie Übertritte (teilweise ganzer Dörfer, insbesondere in Schwarzafrika), wächst. - Bei allen Vergleichen ist selbstredend deutlich, daß man weder 2 Milliarden Christen noch 1,2 Milliarden Muslime „über einen Kamm scheren“, verallgemeinernd in einen einzigen Topf werfen und bei allem zutreffende Meinungen über diese große Zahl von Menschen äußern kann.

Aber den Islam und das Christentum miteinander zu betrachten, liegt auch deshalb nah, weil sie in ihrer Entstehungsgeschichte aufeinandertrafen, so daß wir beide Bücher gar nicht künstlich aufeinander beziehen müssen: Sie beziehen sich selbst aufeinander. Der Beginn dieser Beziehung liegt bei Muhammad, dem Stifter und Verkünder des Islam, der etwa ab dem Jahr 610 auf der Arabischen Halbinsel in seiner Heimatstadt Mekka mit der Botschaft auftrat, daß es nur einen einzigen Gott gäbe, einen allmächtigen Schöpfer und Richter der Welt. Muhammad war in seinem Umfeld mit Juden und Christen und ihren Glaubensvorstellungen in Kontakt gekommen. Das wissen wir zum einen aus dem Koran selbst, aber auch aus Berichten wie den islamischen Überlieferungen. Muhammad verkündete den Glauben an den einen Gott, neben dem keine andere Gottheit existiert. Er wandte sich damit vor allen Dingen gegen den Polytheismus (den Vielgötterglauben) seiner arabischen Landsleute, die Götter in Steinen, Quellen, Bäumen und auch in der Ka’ba in Mekka, einem damals schon existierenden Gebäude, bei Wallfahrten verehrten. Auch mit seiner Predigt des Gerichtes, in dem sich alle Menschen werden verantworten müssen, wandte sich Muhammad vor allen Dingen an seine arabischen Landsleute, die der Meinung waren, mit dem Tod sei alles aus, und es ginge nur darum, das Leben vom Diesseits her zu gestalten.

Diesen Glauben an den einen Gott und das Jüngste Gericht teilten Juden und Christen mit Muhammad, ebenso den Glauben an die Propheten, die im Koran eine sehr wichtige Rolle spielen: Der Koran stellt Propheten als die Verkünder des Glaubens vor, als Botschafter Gottes, denen der Engel Gabriel die Offenbarung übermittelte. Zu den Propheten gehört nach islamischer Auffassung auch Jesus Christus, der im Koran als Mensch, als Prophet und als Verkünder des Islams aufgefaßt wird.

Christen teilten mit Muhammad den Glauben an die Existenz der Engel, an die Existenz des Teufels, aber auch an Ereignisse, wie die Paradieserzählung von Adam und seiner Frau, die aufgrund ihrer Übertretung von Gott aus dem Paradies vertrieben wurden. Christen teilten mit Muhammad Erzählstoffe wie den Bericht von Noah und der großen Flut, die über alle Menschen kam. Sie teilten Berichte über den Auszug Israels aus Ägypten unter der Führung von Mose, aber auch – zunächst rein äußerlich betrachtet - Berichte über Jesus und seine Jünger. Gemeinsamkeiten zwischen Christen und Muslimen ergaben sich zu Lebzeiten Muhammads auch aufgrund der Verwendung bestimmter theologischer Begriffe wie „Sünde“ und „Vergebung“. Hier sind wir eigentlich schon bei denjenigen Inhalten angekommen, die wir in Koran und Bibel gleichermaßen wiederfinden und die - auf den ersten Blick betrachtet - ganz ähnliche Inhalte zu vermitteln scheinen.

In diesen ersten Jahren scheint auch Muhammad in vielen dieser Verkündigungsinhalte stärker das Gemeinsame mit Juden und Christen als das Trennende erkannt zu haben. Und er verstand sich selbst als Fortsetzung und Endpunkt ihrer Prophetenreihe. Er war der Auffassung, daß Gott immer wieder in der Geschichte einen Propheten gesandt hat, und daß er selbst der letzte Prophet in dieser Reihe sei, das „Siegel der Propheten“. Muhammad erkannte in diesen ersten Jahren seiner Verkündigung etwa ab dem Jahr 610 nach Christus die jüdischen und christlichen Traditionen und Überlieferungen an, soweit sie ihm bekannt waren. Allerdings müssen wir davon ausgehen, daß zu Muhammads Lebzeiten keine vollständige Bibelübersetzung auf Arabisch existiert hat. Christen feierten auf der Arabischen Halbinsel ihre Gottesdienste in Altsyrisch, also nicht in der „Sprache des Volkes“. Deshalb – und vielleicht auch, weil Muhammad nicht lesen und schreiben konnte, wie Muslime annehmen - wird er mit einiger Wahrscheinlichkeit vor allen Dingen mündliche Überlieferungen von Christen in seinem Umfeld kennengelernt haben. Grundsätzlich erkannte er zu Beginn seiner Sendung jüdische und christliche Traditionen an, und er bescheinigt den Christen im Koran in diesen ersten Jahren Gotteserkenntnis, Glauben, Demut, Bescheidenheit und auch Liebe. Der Koran subsumiert, daß die Christen diejenigen seien, die den Muslimen am nächsten ständen.

Muhammad erwartete nun seinerseits ebenfalls Anerkennung von Juden und Christen, zum einen Anerkennung seiner selbst als Person aber auch die Anerkennung seiner Sendung als Prophet und Gesandter Gottes, als Führer des arabischen Volkes und seiner ersten Anhänger. In dieser Phase, in der das christlich-muslimische Verhältnis aber bereits einer Veränderung entgegensah, bezeichnete Muhammad seine Offenbarung – das, was später als der Koran zusammengefaßt wurde - quasi als Neuformulierung der christlich-jüdischen Überlieferung, die schon vorher verkündet worden war. Er vertrat die Auffassung, daß seine Verkündigung identisch mit dem war, was schon vorher zu Juden und Christen in ihrer Sprache von ihren Propheten zu ihnen herabgesandt worden war.

Aber Juden und Christen wandten sich im Lauf der Zeit immer mehr von Muhammad ab und seit 622/23 und endgültig ab 624 bestritten sie den Sendungsanspruch Muhammads und lehnen seine Offenbarung ab. Die Juden begannen, ihn zu verspotten. Das jüdisch-christlich-muslimische Verhältnis trat sozusagen in eine 2. Phase ein, die Phase der Entfremdung, die Phase der Distanz, des Mißtrauens und auch der zunehmenden Feindschaft.

Auch Muhammad lehnte nun seinerseits immer klarer die - wie er glaubte - spezifisch christlichen Positionen ab. Der Koran bezeugte nun, daß der Glaube an die Kreuzigung Jesu falsch sei. Der Mensch ist aus islamischer Sicht nicht verloren, er braucht keine Erlösung. Warum hätte eine Kreuzigung stattfinden sollen, wenn der Mensch nicht von Gott getrennt ist? Zu dieser Zeit wird auch der Glaube an die Trinität im Koran verurteilt, an eine Trinität, die Muhammad allerdings als leibliche Verwandtschaft zwischen Gott und seiner Ehefrau Maria auffaßte, die gemeinsam einen Sohn bekommen, Jesus Christus.

Der Koran lehnt aus dem Gedanken der absoluten Einzigartigkeit Gottes, neben dem kein anderes Wesen stehen darf, den Gedanken der Trinität und der Gottessohnschaft Jesu ab. Er faßt also die Gottessohnschaft als etwas Additives auf, als etwas, was Gott hinzugefügt wird. Er versteht die Trinität nicht als eine „Personalunion“ zwischen Gott, Vater und seinem Sohn und dem Heiligen Geist, sondern den Sohn als eine zweite Person oder Gottheit neben Gott, dem Vater. Mit dieser Positionierung hat sich Muhammad entschieden, die Grundlagen des christlichen Glaubens abzulehnen.

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Kämpferische und friedliche Aussagen des Korans

In dieser Zeit änderte sich innerhalb der muslimischen Gemeinschaft auch die Auffassung davon, wie der Glaube verkündet werden bzw. mit welchen Mitteln sich die muslimische Gemeinschaft ausbreiten darf. Es ist besonders nach dem 11. Sept. 2001 viel über den Begriff des Jihâd diskutiert worden. Es ist immer wieder zu recht festgestellt worden, daß der Begriff des Jihâd nicht „Heiliger Krieg“ bedeutet. Der Begriff des „Heiligen Krieges“ kommt so nicht im Koran vor. Jihâd bedeutet eigentlich „Bemühung“ oder „Anstrengung“ auf dem Weg Gottes. Wenn der Koran nun in den ersten zehn bis zwölf Jahren der Verkündigung Muhammads von Jihâd spricht, meint er damit das Bemühen, Gottes Botschaft zu verkünden und die Menschen zum Islam zu rufen. In diesen ersten Jahren wurde Muhammad von seinen Nachbarn und Verwandten und den Angehörigen anderer Stämme bedrückt, verfolgt und verspottet. Sein Anspruch, ein Prophet Gottes zu sein, wurde – von wenigen Anhängern abgesehen - nicht aufgenommen. Muhammad wanderte 622 aus seiner Heimatstadt Mekka in die Nachbarstadt Medina aus, weil er in Mekka hart bedrängt worden war.

In dieser ersten Zeit hat also der Begriff Jihâd nichts Kämpferisches. Diese Bedeutung  erhält er jedoch in der Zeit Muhammads in Medina ab 622. Aus der Zeit der dortigen Auseinandersetzung mit den jüdischen Stämmen, den Allianzen, die sich mit und unter arabischen Stämmen bildeten, den mekkanischen Truppen, die immer noch versuchten, Muhammad in Medina zum Aufgeben zu bewegen, um diesen Machtfaktor aus der Welt zu schaffen, finden sich viele Verse im Koran, die von Jihâd im Sinne von Kampf und Krieg sprechen, von kämpferischer Auseinandersetzung und vom Töten der Feinde der ersten muslimischen Gemeinschaft.

Heute berufen sich muslimische Gruppierungen auf die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs Jihâd. Mystiker berufen sich darauf, daß der wahre Jihâd gute Handlungen und Gedanken seien: Der „Jihâd der Zunge“, „des Herzens“ und „der Hände“ will dem anderen helfen und Gutes tun und sagen, dem Reisenden und dem, der in Not ist, Geld spenden. Für Mystiker ist der „Jihâd des Schwertes“ - also der bewaffnete Kampf - der „kleinere Jihâd“, der von geringerer Bedeutung ist. Andere, politisch motivierte Gruppierungen sind der Auffassung, daß die Zeit des friedlichen Rufes zum Islam heute vorbei ist, weil in alle Welt der Ruf zum Islam ergangen ist und nun der Jihâd, der Kampf oder die kämpferische Auseinandersetzung, mit den Feinden des Islam geführt werden muß. Hier finden wir also eine Bandbreite von Auffassungen, die ihren Ursprung in der Geschichte haben.

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Die Absolutsetzung des Islams und Korans

In dieser Zeit der Entfremdung und der zunehmenden Feindschaft zwischen Muslimen sowie Juden und Christen war Muhammad mehr und mehr zu der Auffassung gekommen, daß Christen ihre Schriften verfälscht haben und zwar überall dort, wo sich Unstimmigkeiten mit dem Koran ergaben.

Von seiner anfänglichen Anerkennung anderer Schriften, die anderen Völkern vor ihm offenbart worden waren, änderte Muhammad seine Haltung immer mehr dahingehend, daß der Koran die einzige und die absolute Wahrheit sei, der  über allen anderen Schriften stände, weil diese im Laufe der Zeit verändert und verfälscht worden seien. Der Koran versteht sich in dieser zweiten Phase der christlich-muslimischen  Begegnung gewissermaßen als Korrektur der biblischen Schriften, nicht mehr als ein ihr gleichwertiger Offenbarungsinhalt. Und diese Haltung hat der Islam im wesentlichen beibehalten. Diese Auffassung wird auch von muslimischen Theologen vertreten, ja im Laufe der Zeit sogar verstärkt und unterstrichen. Aus muslimischer Sicht ist der Koran die einzig wahre Offenbarung, die alle anderen Schriften überbietet und ablöst. Alle anderen Offenbarungen hatten nur zeitliche Gültigkeit.

Diese Auffassung ist natürlich nur erklärlich, indem der Islam seine Entstehung an den Beginn der Menschheitsgeschichte verlegt: Der Koran ist der Auffassung, daß der Islam die Religion ist, die von Anfang der Menschheitsgeschichte existiert hat, ja, daß Adam, Abraham, Mose, Hiob, Saul, Salomo und alle Propheten bis zu Jesus Muslime waren, die den Islam verkündeten. Nur die Christen hätten diese Offenbarung falsch interpretiert, die Gottessohnschaft hinzugefügt und sind damit von der wahren Offenbarung abgewichen.

Zu dieser Zeit erklärt sich der Islam nun nicht mehr als gleichberechtigte Religion neben Juden- und Christentum, sondern zur einzig wahren Religion, die von Anfang an gewesen ist und zur einzigen Wahrheit, die bis in Ewigkeit bestehen wird. Selbstverständlich können weder Juden noch Christen diese Auffassung teilen und diesen Absolutheitsanspruch akzeptieren. Sie lehnten ab, daß der Islam vor Muhammad jemals gepredigt wurde, daß überhaupt dieser Begriff bekannt war und die entsprechenden Inhalte vorgetragen wurden.

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Unterschiede im Schriftverständnis

Äußerliche Unterschiede
Damit ist gewissermaßen das Verständnis des Korans von der Heiligen Schrift der Christen umrissen: Der Koran lehnt die Kernbotschaft des Neuen Testamentes ab, die Gottessohnschaft, Kreuzigung und Trinität. Trotz aller historischen Verbindungen also – die verschiedenen Personen des Alten und des Neuen Testaments im Koran wie Adam, Abraham, Mose, Hiob, Salomon, Saul, Maria, Johannes der Täufer und Jesus selbst – trotz der in Koran wie Bibel berichteten Ereignissen wie der Sintflut und der Paradieserzählung und der gemeinsam verwendeten theologischen Begriffe („Sünde“, „Gericht“, „Vergebung“, „Paradies, „Hölle“), trotz der gemeinsamen Achtung vor der eigenen Heiligen Schrift, des Glaubens, daß Gott sich in dieser Schrift mitgeteilt hat, und diese Schrift bis heute von ungebrochener Aktualität ist, ergeben sich bei näherer Beschäftigung doch etliche Unterschiede zwischen Islam und Christentum allgemein, aber auch in bezug auf das Schriftverständnis von Koran und Bibel.

Diese Unterschiede beziehen sich z. B. auf das Inspirationsverständnis. Gott hat seine Schrift als Offenbarung gesandt. Diesen Glauben teilen Christen und  Muslime. In der Frage, auf welche Weise Gott die Offenbarung übermittelte, an wen er sein Wort ergehen ließ und wie er seine Botschaft offenbart hat, gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen zwischen Muslimen und Christen:

Es existieren zum einen äußerliche Unterschiede: Muhammad wird als alleiniger Autor des Korans betrachtet. Der Koran umfaßt einen Zeitraum von nur 22 Jahren (von etwa 610 n. Chr. bis zu Muhammads plötzlichem, unerwarteten Tod im Jahr 632). Der Umfang des Korans entspricht ungefähr dem des Neuen Testamentes. Damit ist der Koran wesentlich kürzer als das Alte und Neue Testament zusammen. Die biblischen Bücher haben dagegen eine Vielzahl von Autoren. Die biblischen Schriften umfassen einen Zeitraum von mehreren Tausend Jahren, in deren Mitte stets das Zeugnis von Jesus Christus steht, dem im Alten Testament prophezeiten Erlöser, von dessen Kommen das Neue Testament berichtet.

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Inhaltliche Unterschiede
Weitere Unterschiede ergeben sich hinsichtlich des Geschichtsverständnisses von Koran und Bibel: Die Bibel berichtet von Gottes Geschichte mit den Menschen. Sie entfaltet Geschichte progressiv von der Schöpfung bis zur Offenbarung. Sie enthält aber auch Profangeschichte, sie nennt konkrete Daten, Zahlen, Namen, Genealogien (Geschlechtsregister), die über Verwandtschaftsgrade Auskunft geben. Diese Angaben scheinen uns heute kaum von großer Bedeutung zu sein. Sie bringen jedoch zum Ausdruck, daß die Bibel ein geschichtliches Dokument sein möchte und es auch ist. Sie legt sich damit eindeutig fest, in welchem Jahr dieses oder jenes Ereignis geschehen ist. Gerade heute bestätigt die Archäologie manche dieser Daten, z. B. die Regierungszeiten und Reihenfolge der ägyptischen Pharaonen. Auch die Qumranfunde bestätigen die biblische Überlieferung. Es ist nicht verwunderlich, daß die Bibel auch ein Geschichtsbuch sein will. Sie erzählt die Geschichte Gottes mit den Menschen, aber sie nennt auch viele historische Daten der Profangeschichte.

Der Koran dagegen wirft eher ein Schlaglicht auf die 22 Jahre der Verkündigung Muhammads. Er richtet auf die Person und Position Muhammads einen Scheinwerfer, die Zeit vor und nach ihm bleibt recht dunkel. Die Geschichte vor Muhammad wird zwar angedeutet, aber sie bleibt im großen und ganzen im Unpräzisen. Der Koran enthält keine Chronologie, keine Daten zur Geschichte vor Muhammad. Der Koran deutet viele Ereignisse nur an, wie z. B. daß vor Muhammad Propheten auftraten, wie – aus muslimischer Sicht – z. B. Adam und Abraham, die den Islam verkündeten. Der Koran sagt jedoch nichts darüber aus, in welchen Jahren oder Zeitabläufen sie gelebt und gepredigt haben, in welche Abfolge sie auftraten und welche profangeschichtlichen Ereignisse ihre Verkündigung begleiteten. Auch die islamische Überlieferung ergänzt dazu nur sehr wenig. Man könnte schlußfolgern, daß diese geschichtlichen Daten für den Koran nicht nur nicht im Zentrum des Interesses stehen, sondern scheinbar gar keine Bedeutung haben: Der Koran enthält überhaupt keine historischen Daten und nennt nur sehr wenige Namen. Hinzu kommt, daß die 114 Suren (die einzelnen Kapitel des Korans), nicht in einer historischen Abfolge im Koran angeordnet sind.

Wer also die Bibel aufschlägt und im ersten Buch Mose mit der Lektüre beginnt, erhält einen Überblick über die Geschichte Gottes mit den Menschen bis zum Abschluß des Neuen Testamentes. Es ist im großen und ganzen Geschichte in chronologischer Abfolge, was im Koran nicht der Fall ist: Die einzelnen Suren sind nicht in chronologischer Reihenfolge angeordnet. Aber auch einzelne Suren enthalten Teile aus der mekkanischen Zeit Muhammads, also den ersten zehn bis zwölf Jahren seiner Verkündigung und aus seiner medinensischen Zeit, den letzten zehn Jahren in Medina. In etlichen Suren sind eine Vielzahl von Themen nacheinander angeordnet. Einigen Versen über das Lob des Schöpfergottes folgen möglicherweise einige Verse zu Erbgesetzen, darauf folgt ein weiterer Vers, der auf eine Schlacht anspielt, die Muhammad mit seinen Feinden gekämpft hat. Dann folgen vielleicht einige Verse zu Abraham oder Jesus, dann folgen Anweisungen zur Stellung der Frau. Es ergibt sich keine historische Abfolge in dieser Anordnung, so daß man diese Texte historisch nicht einfach zuordnen kann.

Natürlich hat die islamische Theologie definiert, daß die Geschichte Adams, Abrahams, Jesu usw. vor Muhammad liegt, aber es werden keinerlei Daten und keine Chronologie berichtet. Der Koran richtet sein Interesse also schlaglichtartig auf die Person Muhammads. Auch die Geschichte nach Muhammad wird im Koran nicht mehr behandelt. Nachdem Muhammad unerwartet  im Jahr 632 starb, führt der Koran die Geschichte nach ihm nicht fort. Sie ist in Form von Profangeschichte natürlich fortgeführt worden und berichtet von Muhammads Nachfolgern, den Kalifen. Der Koran bricht jedoch mit dem Tod Muhammads ab. Und selbst zur Koranredaktion (der Zusammenstellung des Korantextes, so wie er uns heute vorliegt), existieren etliche voneinander abweichende Auffassungen. Es sind noch längst nicht alle Fragen geklärt, die dazu offen sind.

Ein weiterer Unterschied zwischen Bibel und Koran liegt darin, daß der Koran die Länder, Sprachen und Völker außerhalb der Arabischen Halbinsel offensichtlich nicht im Blickpunkt seines Interesses hat. Er benennt zwar Juden und Christen (und darüber hinaus vielleicht noch ein oder zwei weitere Randgruppen), und im Mittelpunkt seines Interesses stehen die Araber. Die Welt als Ganzes hat er jedoch nicht im Blick. Christen und Nichtmuslime würden sagen, der Koran ist nie als Buch mit weltumspannender Bedeutung und Ausrichtung entworfen worden. Die Bibel dagegen spricht von Anfang an von der Welt der Völker, von allen Menschen, allen Sprachen, die – wie die Offenbarung berichtet - am Ende der Zeiten vor Gottes Thron Gott in allen Sprachen (allen Zungen) anbeten werden. Sie werden aus allen Nationen kommen und aus allen Stämmen. Die Bibel hat die Welt der Völker von Anfang bis Ende im Blick.

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Die Art und Weise der Offenbarung
Weitere Unterschiede zwischen Bibel und Koran betreffen die Art und Weise der Offenbarung. Die islamische Theologie hat stets betont, daß Muhammads Persönlichkeit und seine eigene Geschichte für die Offenbarung des Islam eigentlich keine Rolle gespielt haben und daß seine Persönlichkeit beim Vorgang der Offenbarung gewissermaßen ausgeschaltet war. Auch dadurch wird aus muslimischer Sicht die Echtheit des Korantextes, die wortwörtliche Überlieferung mittels des Engels Gabriels garantiert. Ja, die islamische Theologie ist der Auffassung, daß Muhammad Analphabet war und deshalb das Wunder des Korans als solches um so größer ist. Alle Propheten im Koran zeichnen sich durch ein sog. „Beglaubigungswunder“ aus, ein Wunder, mit dem ihre Sendung beglaubigt wird. Der Koran berichtet, daß Muhammad zu diesem Wunder herausgefordert wurde, aber dies ablehnte und betonte, er sei nur ein Mensch. Der islamischen Theologie gilt der Koran selbst als Muhammads Beglaubigungswunder.

Der Koran berichtet kaum etwas von Muhammads Persönlichkeit. Die islamische Überlieferung füllt diese Lücke in gewisser Hinsicht und berichtet von seinen Vorlieben, Abneigungen von Urteilen, die er in bestimmten Fragen gesprochen hat. Im Korantext selbst steht Muhammads Persönlichkeit jedoch in keiner Weise im Blickfeld des Geschehens. In den biblischen Büchern dagegen treten die Persönlichkeiten der einzelnen Menschen oft überdeutlich hervor: wir lesen vom Zorn des Mose, vom Versagen des Petrus, von Neid und Eifersucht, von Familiendramen bis hin zu Mord und Totschlag, von Verleugnung, von falschen Gerüchten, von Depressionen der Propheten, von der Verzweiflung des Hiob u. a. m. Die Bibel berichtet ungeschminkt über viele menschliche Schwächen, die manchmal eine Katastrophe herbeiführen. Daher sind die Figuren oft zum Greifen nahe, lebendig, menschlich und ihr Handeln nachvollziehbar.

Der Koran – und auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen Koran und Bibel – ist auf arabisch offenbart worden. Er betont selbst, daß dies kein Zufall war, sondern ein wichtiger Umstand, da Gott am Ende der Zeiten einen Propheten zu den Arabern gesandt hat. Ein Koran im eigentlichen Sinn ist immer nur ein Text auf arabisch. Es hat aufgrund des islamischen Dogmas von der „Unnachahmlichkeit des Korans“ jahrhundertelang keine Übersetzungen gegeben. Eine Übersetzung gilt im eigentlichen Sinne nicht mehr als Koran, sondern nur noch als dessen ungefähre Bedeutung. Auch die Verehrung Gottes findet im Islam in vollgültiger Weise nur auf arabisch statt. Inzwischen existieren Übersetzungen und vereinzelt wurde und wird auch auf türkisch und in anderen Sprachen gebetet. Von diesen Ausnahmen abgesehen findet jedoch im großen und ganzen die Gottesverehrung im Islam (vor allem das rituelle Gebet), weltweit auf arabisch statt. Dies ist der Fall, obwohl von 1,2 Milliarden Muslimen vielleicht nur rund 250 Millionen Menschen Arabisch als Muttersprache sprechen. Alle anderen Muslime erlernen Arabisch, zumindest soweit, wie es für die Gebete und religiösen Formeln zum Fasten, zur Pilgerfahrt und zu anderen rituellen Handlungen erforderlich ist. Die vollgültige Gottesverehrung findet also eigentlich auf nur Arabisch statt. Und auch im Fastenmonat Ramadan, in dem viele Muslime den Koran in 30 Abschnitten rezitieren, ist es selbstverständlich, daß diese Rezitation auf Arabisch vonstatten geht. Die arabische Stadt Mekka ist die heiligste Stadt des Islam. In Richtung auf Mekka wird beim rituellen Gebet von allen Muslimen weltweit gebetet.

Aus den biblischen Berichten und der christlichen Tradition wird deutlich, daß die Sprache der Offenbarung (das Griechische, Hebräische und Aramäische), für die Offenbarung keine Rolle spielt. Im Gegenteil, es wird der Gedanke verworfen, daß nur ein Gebet in eine bestimmte Richtung oder in einer bestimmten Sprache geboten wäre. Nein, jede Sprache ist vor Gott eine vollgültige Sprache und jedes Gebet in dieser Sprache ist ein gültiges oder zulässiges Gebet. Diese Bejahung der Sprachenvielfalt kommt nicht zuletzt auch in der ungeheuer großen Zahl der Bibelübersetzungen zum Ausdruck, die bis heute erstellt werden, damit Menschen das Wort Gottes in ihrer eigenen Sprache lesen können. Niemand muß nach christlicher Auffassung Griechisch oder Hebräisch erlernen, um Christ werden oder Gott verehren zu können.

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Hat Gott sich selbst offenbart?
Zum Schluß möchte ich aber noch auf eine Frage eingehen, die von zentraler Bedeutung ist, nämlich die Frage, wie sich Gott denn eigentlich offenbart. Auf welche Weise tritt er aus der Transzendenz heraus? Wie kommt er vom Jenseits ins Diesseits, den Bereich des Menschen?

Nun, im Koran bzw. im Islam offenbart sich Gott selbst eigentlich gar nicht. Gott ist ein Geheimnis, so lehrt es die islamische Theologie. Er ist von der Schöpfung getrennt. `Schleier umgeben ihn`, so hat die Philosophie formuliert. Er existiert in einem Raum, zu dem der Mensch keinen Zutritt hat. Der Mensch kann von sich aus keine Verbindung zu Gott herstellen. Es existiert keine Brücke zwischen Schöpfer und Geschöpf. Auch seine Offenbarung sendet Gott dem Menschen nicht direkt, sondern mittels des Engels Gabriel. Die Überlieferung beschreibt es so, daß Gott hinter einem Vorhang spricht, den der Mensch von seiner Seite aus nicht durchdringen kann. Er kann Gott nicht erkennen, er kann Gott nicht erfassen und nicht verstehen. Er hat von sich aus keinen Zugang zu ihm. Der Koran bezeugt, daß sich niemand Gott nähern kann „außer als Sklave“ (oder als Diener), als einer, der sich ihm unterwirft. Genau das bedeutet ja der Begriff „Islam“: Hingabe, völlige Unterwerfung unter Gott und seinen Willen, wie er ihn im Koran mitgeteilt hat.

Gott ist also nach islamischem Offenbarungsverständnis aus dem Schleier der Verborgenheit nie herausgetreten. Er hat zwar seine Botschaft übermittelt, er sendet den Menschen Zeichen (z. B. mit seiner Schöpfung). Der Koran ist der Auffassung, daß jeder Mensch Gott an der Schöpfung erkennen kann. Aber von sich selbst und seinem Wesen hat er nichts übermittelt.

Dagegen beschreibt die Bibel im Alten wie im Neuen Testament, daß Gott sich selbst geoffenbart hat. „Ich bin der ich bin“ ist nicht eine zufällige, austauschbare Formel, sondern bezeichnet Gottes Selbstoffenbarung. Diese Offenbarung setzt sich im Laufe der Geschichte fort. Gott teilt seinen Propheten fortlaufend Offenbarungsinhalte mit, bis er sich in vollkommenster Weise am Ende der Zeiten in Jesus Christus offenbart. Damit wird er für den Menschen greifbar: In Jesus teilt er ihnen mit: hier könnt ihr mein Wesen und Handeln erkennen. Die biblische Offenbarung schreitet also fort, es bleibt nicht bei diesem „Ich bin der ich bin“. Gottes Wesen kann erfahren und erfaßt werden.

Zwar kann der Mensch auch nach christlicher Auffassung nicht von sich aus zu Gott kommen. Aber Gott - und das ist ja gerade die Botschaft des Evangeliums - ist zum Menschen gekommen. Er hat die fehlende Brücke geschlagen. Er hat von sich aus den Schritt auf die menschliche Ebene gemacht, das wird im Neuen Testament beschrieben, bezeugt, erklärt und in vielen Bildern und Gleichnissen beschrieben. So sagt etwa der Schreiber des Hebräerbriefes über Jesus Christus: „Er schämt sich nicht, sie (die Menschen) Brüder zu nennen.“ An anderer Stelle werden Christen „Freunde“ Gottes genannt. Gott stellt von sich aus eine gemeinsame Ebene mit dem Menschen her.

Aus diesem Unterschied - daß im Islam Gott sich eigentlich selbst nicht offenbart hat und im Christentum gerade darauf das Hauptgewicht liegt – ergeben sich Konsequenzen: So etwa die, daß im Islam das einzelne Koranexemplar geradezu eine kultische Verehrung erfährt. Von Gott ist außer seiner Botschaft und den Zeichen wie der Schöpfung -  nichts bekannt geworden. Nur im Koran kann der Mensch seinen Willen erfahren. Von sich selbst, seiner eigenen „Person“ (dieser Begriff ist für den Islam eigentlich nicht zutreffend) hat Gott nichts mitgeteilt. Er tritt aus seiner Verborgenheit und Transzendenz nicht heraus. So wird das einzelne Koranexemplar - vielleicht könnte man sagen, als das, was der Mensch von Gott übermittelt bekam – sehr verehrt.

Man darf einen Koran nur im Zustand der Reinheit berühren und benutzen. Den Koran zu lesen, gilt als verdienstvolles Werk vor Gott. Den Koran zu beschmutzen oder zu zerreißen oder despektierlich zu behandeln, gilt als Sünde, bzw. in einigen Ländern auch als Verbrechen, das z. B. das pakistanische Strafgesetzbuch mit lebenslanger Gefängnisstrafe bedroht. Im Volksislam wird der Koran auch für magische Rituale benutzt. Und in der Theologie gilt seine Rezitation, die Wiederholung seiner Worte, das Auswendiglernen (nicht dagegen unbedingt das Verständnis des Textes) als verdienstvolles Werk, das angenehm vor Gott macht. Und in vielen theologischen Hochschulen wird gerade dieses Auswendiglernen, das sich Aneignen dieses Textes, sehr geübt und zur hohen Kunst perfektioniert. Der Koran selbst als solcher ist ein heiliges Buch, aber nur in seiner arabischen Form, in einer statischen Art und Weise sozusagen.

Dagegen betont die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite, daß das Wort Gottes lebendig ist, daß Gott sein Wort sendet und daß es Menschen verändert. Es hat Kraft, es richtet etwas aus, es setzt Menschen und Dinge in Bewegung. Diese Kraft zieht Kreise in der Familie, die nach christlichen Maßstäben lebt, sowie in einer christlichen Gemeinde, die nicht nach denselben Maßstäben leben soll wie Menschen, die Gott nicht in ihr Leben mit einbeziehen. Das alles ist nur möglich, wenn das Wort Gottes Kraft hat. Wenn das biblische Gedankengut nur eine gute Idee ist, ein theoretisches Gedankengebäude, wird es nicht möglich sein, wirkliche Veränderung in Gang zu setzen und zu spüren.

Eine Konsequenz aus dem unterschiedlichen Schriftverständnis, die mir von noch größerer Bedeutung zu sein scheint, ist die Frage nach der Gewißheit des Glaubens und der Gewißheit der Erlösung und Befreiung von Sünde. Denn im Islam ist unbestritten, daß ein unumschränkter, souveräner Gott, der allmächtig ist, dessen Entscheidungen man nicht vorhersehen und nicht beschreiben kann, weil man als Mensch nicht dazu berufen ist, sie zu verstehen, sich nicht auf seine letztgültige Entscheidung über einen Menschen festlegt. D. h., daß sich niemand vor seinem Tod sicher sein kann, ob er Vergebung und Erlösung erreichen wird, ob Gott ihm als Sünder gnädig sein wird. Gott bleibt die Freiheit, sich im Gericht auch anders zu entscheiden, er legt sich vorher nicht fest.

Erst vor kurzem bestätigte bei einer Moscheeführung ein junger Mann auf die Frage, ob er sich über seinen Eingang ins Paradies sicher sein könne, daß er darüber keine Gewißheit habe. Er hoffe zwar auf Gottes Gnade, aber er wisse nicht, ob Gott sich für ihn entscheiden werde. Er wisse nicht, ob seine guten Werke seine bösen überwiegen werden und ob sein Glaube vor Gott ausreichen werde.

Gott läßt sich also im Islam nicht auf ein vorhersagbares Handeln oder auf einen bestimmten Ausgang der Geschichte mit dem Menschen festlegen. Demgegenüber legt die Bibel von Anfang an großes Gewicht auf Gottes Verläßlichkeit und Treue. Die Bibel berichtet zwar auch von einem allmächtigen Gott, der unumschränkt herrscht, dem niemand etwas vorzuschreiben hat, aber doch von einem Gott, der sich selbst beschränkt und selbst festgelegt hat. Er schwört bei sich selbst und sagt zu, was er ganz gewiß tun wird. Er gibt Versprechen, er gibt Verheißungen, er schwört bei sich selbst, daß er verläßlich und treu ist. Und diese Treue bedingt, daß auch Menschen treu und verläßlich sein sollen. Das Neue Testament fordert zur Wahrhaftigkeit heraus („Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein“). Gottes Treue ist im Alten wie im Neuen Testament ein ganz zentraler Punkt. Meiner Meinung sollten Christen und Muslime gerade über diesen Punkt der Gewißheit des Glaubens mehr ins Gespräch kommen: Über Gottes verändernde Kraft und seine Vergebung, sein Wesen, das er nach christlichem Verständnis offenbart hat, auf welche Weise er sich offenbart hat, wie er heute mit Menschen handelt und gerade dem auch Hoffnung und Trost gibt, der in einer verzweifelten Situation ist und diese Kraft Gottes in seinem Leben spüren möchte. Von dieser Erfahrung der lebendigen Hoffnung und der Kraft Gottes in Jesus Christus wünsche ich mir, daß sie in unserer Umgebung sichtbar wird und noch mehr auf andere Menschen ausstrahlen kann.

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