An dieser Stelle wird ein Aufsatz des Vorsitzenden des Lutherischen Konvents im Rheinland abgedruckt,
der in Heft 3/2001 in den Lutherischen Nachrichten erschienen ist. Dieser
Aufsatz soll ein Beitrag zur Strategie der Kirche und des Lutherischen
Konvents im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft sein.
Die These ist: Das Verhältnis
von Staat und Kirche, von Gesellschaft und Christen, muß neu, und
zwar im Sinne einer größeren Distanz justiert werden. Staat
und Gesellschaft entwickeln sich in zunehmendem Maße von den Vorstellungen
der Christentums fort. Sie sind dabei, wesentliche christliche Werte aufzugeben
bzw. zu zerstören. Dies wird beispielhaft an wesentlichen zeitgeschichtlichen
Entwicklungen aufgezeigt. Das Konstantinische Zeitalter geht daher wirklich
seinem Ende entgegen. Die Kirche und die Christen müssen sich daher
als Fremdlinge in der Welt begreifen. Sie müssen sich verstärkt
auf ihren eigenen, geistlichen Auftrag besinnen und alle Versuche, den
Riß zu kitten, und alle würdelosen Formen der Anpassung
an die Welt aufgeben. Erst wenn sie das tun, werden sie ihre Krise überwinden
und neue Stärke gewinnen können.
Der Aufsatz ist vor dem 11. September
2001 verfaßt worden. Er geht daher nicht auf die Terroranschläge
in den USA ein. Bewußt wurde darauf verzichtet, dazu noch etwas zu
sagen, da die Terroranschläge und die neue Herausforderung, die von
großen Teilen des Islam auf die westliche Welt zukommen, nichts Grundsätzliches
an den Thesen des Aufsatzes ändern. Diese Entwicklung ist eher eine
zusätzliche Unterstützung der vorgetragenen Thesen.
An die auserwählten Fremdlinge,
die verstreut wohnen in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien
und Bithynien hat Petrus den ersten Brief adressiert. Und mit diesem Wort
„Fremdlinge“, hat er die Christen insgesamt bezeichnet. Denn das war ihm
mit allen anderen Christen seiner Zeit selbstverständliche Überzeugung,
daß Christen Fremdlinge sind in der Welt, daß also die Welt
andere Wege geht und andere Ziele verfolgt als die Christen. Eine Einheit
von Staat und Kirche, etwas wie die spätere Ehe von Thron und Altar
in der Zeit nach Konstantin, war für Petrus wie für die anderen
Christen auch eine absolute Denkunmöglichkeit. Mit Konstantin ist
das dann anderes geworden. Seit der konstantinischen Wende ist es für
das gesamte Mittelalter die herrschende Lehre gewesen, daß Kirche
und Staat, Christen und politische Bürger, Bischöfe und Fürsten
einem gemeinsamen Ziel verpflichtet seien und daß es die Aufgabe
der Christenheit sei, Staat und Gesellschaft zu christianisieren.
Am Ende des Mittelalters dann
wird diese "Selbstverständlichkeit" nicht zuletzt in der Reformation
Martin Luthers in Frage gestellt: In der „kleinen“ Galaterbriefvorlesung
von 1516/1517 betont Luther zu Gal. 1,3, daß es ein Entweder-Oder
gibt zwischen dem Frieden mit Gott und dem Frieden mit der Welt:
"Hec enim
gratia spiritualis est et occulta, quia aufert peccata et offensas occultissime
tegit, sed eoipso infert offensas hominum, carnis et diaboli. - Diese Gnade
nun ist geistlich und verborgen, weil sie die Sünden aufhebt und die
Anstöße im Verborgenen zudeckt, genau dadurch Aggressivität
der Menschen, des Fleisches und des Teufels hervorruft".
Unabhängig davon, was man ansonsten zur Terminierung des „reformatorischen
Durchbruchs“ bei Luther sagen mag, in der theologischen Beurteilung des
Spannungsverhältnisses, in dem der Christ in der Gesellschaft steht,
hat Luther mit dieser Äußerung offensichtlich und eindeutig
den Bruch mit der mittelalterlichen Ehe von Imperium und Sacerdotium vollzogen.
Luther hat gegenüber dem
mittelalterlichen Einheitsdenken schon in der frühen Zeit der 1. Galaterbriefvorlesung
erkannt und gelehrt, daß es zwischen Gott und Welt am Ende keine
Kompromisse gibt. Die Welt steht Gott feindlich gegenüber. Sie läßt
sich letztlich nicht christianisieren. Der Staat läßt sich nicht
zur Kirche und das Dorf nicht zum Kloster gestalten. Wer Frieden mit Gott
hat, wird früher oder später im Unfrieden mit der Welt leben,
und wer mit der Welt seinen Frieden geschlossen hat, kann nicht im Frieden
mit Gott leben. Fleisch, Menschen, Teufel und Welt sieht Luther in der
Galaterbriefvorlesung in einer Linie, in einer Linie, die gegen Gott gerichtet
ist und sich gegen ihn auflehnt. Deshalb stellt er abschließend fest:
"quadam libra sese componderant ista 4: gratia dei et indignatio mundi
pax dei, turbatio mundi gratia mundi et indignatio
dei pax mundi, turbatio dei". - Daher sind wie in einer Waage
diese vier Dinge etwa im Gleichgewicht: Gnade Gottes und Ungnade der
Welt Friede mit Gott und Streit in der Welt Gnade vor der Welt und Ungnade
vor Gott Friede mit der Welt und Streit mit Gott.
In diesem Artikel soll die
Frage gestellt werden, ob das Fremdheitsbewußtsein der frühen
Christenheit und die Alternativen Luthers heute noch Gültigkeit beanspruchen
können oder ob sie durch die harmonische Entwicklung in Staat und
Kirche überholt worden sind. In Frage soll dabei vor allem das Verhältnis
von Kirche und Staat, Kirche und Gesellschaft stehen. Der Artikel ist in
drei Kapitel gegliedert: Nach einem kurzen historischen Rückblick,
überschrieben "Harmonie in den nachreformatorischen Jahrhunderten",
sollen in Kapitel II unter der Überschrift "Bruchstellen heute" heutige
Konfliktfelder beschrieben werden. In Kapitel III schließlich soll
unter der Überschrift "Unterwegs als Fremdlinge" über
mögliche Konsequenzen nachgedacht werden.
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I Harmonie in den nachreformatorischen Jahrhunderten
Die reformatorischen Kirchen
haben bis in das 20. Jahrhundert hinein von der Erkenntnis Luthers aus
der frühen Galaterbriefvorlesung nur sehr sparsam Gebrauch gemacht.
Letztlich ohne Bedenken und ohne große Auflehnung haben sie in den
verschiedensten Formen des Staatskirchentum in äußerst loyaler
Haltung gegenüber den staatlichen Machthabern das Bündnis von
Thron und Altar fortgesetzt und die daraus resultierenden Privilegien in
Anspruch genommen. Nach dem Ersten Weltkrieg ist in Deutschland zum ersten
Mal dieses Miteinander in Frage gestellt worden. Wortführer waren
die Theologen der „Dialektischen Theologie“, vor allem der sozialistisch
geschulte schweizerische Theologe Karl Barth und seine Schule. Bei allem,
was man aus lutherischer Sicht kritisch zur barthschen Theologie sagen
kann und sagen muß, ist es aus heutiger Sicht wohl als sein bleibendes
Verdienst zu werten, daß endlich einmal offen die grundsätzliche
wechselseitige Distanz und Fremdheit von Staat und Kirche, Thron und Altar
auf die Agenda der Theologie gekommen ist. Barth und die Barthianer sind
dabei nicht allein geblieben. Spätestens in der Zeit des Nationalsozialismus
haben reformierte und lutherische Christen, barthianische und lutherische
Theologen gemeinsam das unverwechselbar Eigene der Kirche betont und in
kämpferischer Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat durchgehalten.
Manche haben dafür als Märtyrer ihr Leben gelassen.
In der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg haben dann allerdings sowohl die Barthschule als auch die lutherischen
Kirchen die Distanz gegenüber Staat und Gesellschaft nur sehr unvollkommen
und am Ende überhaupt nicht mehr durchgehalten. Dies gilt jedenfalls
für die Entwicklung in der Westhälfte Deutschlands. Grund dafür
ist die richtige Überzeugung gewesen, daß der neue, demokratische
Staat einen völlig anderen Charakter hatte als das Unrechtsregime
der Nationalsozialisten. Der Staat des Grundgesetzes war ein Rechtsstaat.
Fundamentale Menschenrechte wurden durch die Verfassung garantiert. Und
auch wesentliche christliche Grundwerte, wie z.B. das Sozialstaatsprinzip,
der Schutz von Ehe und Familie, der unbedingte Schutz des Lebens, hatten
in die Verfassung Eingang gefunden und waren auch in der Verfassungswirklichkeit
in Geltung.
Die Evangelische Kirche hat
daraus die Konsequenz gezogen, daß sie den demokratischen Staat nicht
mehr nur entsprechend der
"von Martin Luther bestimmte(n) theologische(n)
Tradition" als vor allem von der
"Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit des
Menschen“ her zu legitimierende „Anordnung Gottes",
also gewissermaßen als notwendiges Übel, zu verstehen gesucht
hat, sondern als Raum, in dem die
"Verantwortungsfähigkeit des Menschen"
ihre legitime Betätigung findet. Sie kam so zu einer grundsätzlich
positiven Sicht des demokratischen Rechtsstaates:
"Die politische Verantwortung
ist im Sinne Luthers 'Beruf' aller Bürger in der Demokratie."
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II Bruchstellen
Ganz ohne Frage hat die Evangelische
Kirche damals Richtiges gesagt, und ganz ohne Frage sollte die Kirche zum
demokratischen Rechtsstaat in einem grundsätzlich positiven Verhältnis
stehen. Zu fragen ist allerdings, ob das heute noch so gilt wie in der
Mitte der achtziger Jahre. Geschichte bleibt nicht stehen, und die Verhältnisse
sind einem ständigen Wandel unterworfen. Deshalb muß das Verhältnis
der Kirche und der Christen zum Staat immer wieder neu überprüft
und justiert werden. Heute ist es an der Zeit, das zu tun, da sich seit
1985 in der Tat einiges, und zwar mehr als nur Nebensächliches geändert
hat. Es könnte sein, daß heute wieder stärker auf die grundsätzlichen
Alternativen Luthers zurückgegriffen werden muß. Es könnte
sein, daß die Christen erneut von Petrus lernen und sich als Fremdlinge
in Staat und Gesellschaft begreifen müssen. Der Staat ist nämlich
offenbar nicht mehr in solchem Ausmaß wie der Grundgesetzstaat von
1948 eine Bastion christlicher Werte und Menschenrechte. Zumindest muß
man konstatieren, daß viele Werte und Menschenrechte, die über
Jahrzehnte hinweg Gültigkeit hatten, heute in zunehmendem Maße
in der öffentlichen Diskussion und dann auch in der Gesetzgebung zur
Disposition gestellt werden. Die folgenden Beispiele sollen das demonstrieren:
1. Einschränkung des Rechts auf Leben
1.1 Abtreibung
Schon in der von allen großen
Parteien zu verantwortenden liberalen Abtreibungsgesetzgebung, die de facto
das Lebensrecht ungeborener Kinder der Willkür der Erwachsenen unterstellt
hat, ist der grundgesetzliche Schutz des Lebens mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts
erheblich relativiert worden. Heute wird dieser Weg sowohl am Anfang als
auch am Ende des Lebens weiter beschritten. Insofern hat Präses Kock
Unrecht, wenn er im Blick auf Stammzellenforschung und Präimplatationsmedizin
von einem „ethischen Dammbruch“ spricht. Der Dammbruch ist in der Abtreibungsgesetzgebung
(leider mit Zustimmung der Evangelischen Kirche!) längst erfolgt.
1.2 Am Ende des Lebens
Offen wird darüber diskutiert,
ob man die „Euthanasie“-Gesetzgebung Hollands nicht auch in Deutschland
nachvollziehen sollte. Es geht dabei im Kern darum, ob Menschen einem unheilbar
Kranken eine Todesspritze geben sollten und dürfen. In Holland ist
das seit langem gängige Praxis. Noch bevor diese Praxis durch den
Gesetzgeber legalisiert worden ist, haben Ärzte über viele Jahre
hinweg alte und kranke Menschen zu Tode gespritzt. Jetzt hat der Staat
diese Praxis unter bestimmten Bedingungen für rechtens erklärt.
Daß dies gegen Gottes Gebot gerichtet ist, bedarf keiner Begründung.
Es ist offenkundig. Am Ende des Lebens will der Mensch sich zum Herrn über
Leben und Tod aufschwingen. In verwegener Auflehnung greift er damit in
die Kompetenzen Gottes ein. Zudem muß die Frage gestellt werden,
ob man durch einen vorzeitig herbeigeführten Tod dem Sterbenden nicht
noch die Chance nimmt, vor seinem Tode sein Verhältnis zu Gott und
also zu seinem himmlischen Richter in Ordnung zu bringen. Verhängnisvoll
wäre es, wenn ein Mensch durch eine ärztliche Todesspritze dazu
gebracht würde, daß er ohne Frieden mit Gott sterben müßte,
obwohl Gott ihm eigentlich noch eine Zeit zur Umkehr und Buße eingeräumt
hatte.
1.3 Am Anfang des Lebens
Auch am Anfang des Lebens ist
der Mensch dabei, sich Rechte anzumaßen, die ihm nicht zustehen.
Stichworte sind: Klonen von Embryonen, Experimentieren mit (d.h. Töten
von) embryonalen Stammzellen, Präimplantationsdiagnostik. Gewiß,
noch sind die Gesetze in Deutschland nicht beschlossen. Der Bundeskanzler
hat eine Ethikkommission berufen, die die Dinge erst noch einmal beraten
soll. Es dürfte aber klar sein, daß diese Kommission nur aufschiebende
Wirkung haben wird. Der politische Zweck, mit dem der Kanzler diese Kommission
berufen hat, besteht ja gerade darin, daß in der Öffentlichkeit
Lernprozesse in Richtung auf eine gradualistische Aufweichung des Rechts
auf Leben angeregt und gesteuert werden, so daß am Ende die Gesetze
gemacht werden können, die diejenigen, denen es vor allem um den Wirtschaftsstandort
Deutschland geht, schon so lange fordern.
Festzustellen bleibt unter
Punkt 1, daß der Staat sich Schritt für Schritt vom christlich
geforderten Schutz des Lebens verabschiedet. Dies muß zu einer Anfrage
an das harmonische Miteinander von Kirche und Staat werden.
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2. Angriff des Staates auf Ehe und Familie
In diesem Jahr ist in Deutschland
wie in vielen anderen westlichen Staat zuvor ein Gesetz in Kraft getreten,
das nur als ein gezielter Angriff auf Ehe und Familie zu werten ist, die
ja auf dem Papier immer noch unter dem Schutz des Grundgesetzes stehen.
Es handelt sich darum, daß eine Verbindung homosexueller Paare rechtlich
praktisch mit einer Ehe gleichgestellt wird. Das bedeutet natürlich
im Umkehrschluß, daß Ehe und Familie eben nicht mehr als etwas
Besonderes zu gelten haben, daß sie also keineswegs mehr unter dem
besonderen Schutz des Staates stehen.
Daß dies in fundamentalem
Gegensatz zum biblischen Zeugnis und zum christlichen Verständnis
der Ehe steht, braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden. Für jeden,
der die Bibel unbefangen liest, ist das evident. Nur eine absichtliche
Verfälschung biblischer Texte, wie sie für das rheinische Papier
„Sexualität und Lebensformen“ von 1996 kennzeichnend ist, kann aus
der Bibel eine Rechtfertigung homosexuellen Verhaltens herauslesen. Auf
der anderen Seite ist es ebenfalls evident, daß die Bibel und die
gesamte christliche Tradition für die Ehe als lebenslange Verbindung
von Mann und Frau eintreten. Es ist offenkundig, daß dieser Ehe die
Verheißung gegeben ist, daß sie das Leben weitergeben soll-
sie steht unter dem Segen Gottes! Und es ist ebenfalls offenkundig, daß
diese Ehe durch das Gebot Gottes und durch klare Worte Jesu Christi in
besonderer Weise geschützt wird.
Auch in einem anderen Bereich
unternimmt der Staat einen konsequenten Angriff auf die besondere Stellung
von Ehe und Familie, nämlich in dem seit Jahren zu beobachtenden Bemühen,
nicht-eheliche Lebensabschnittsgemeinschaften von Mann und Frau rechtlich
so weit wie möglich der Ehe gleichzustellen. Daß auch durch
diese Bestrebungen der besondere Schutz von Ehe und Familie relativiert
und schließlich abgeschafft wird, ist offensichtlich. Der Staat arbeitet
also de facto daran, die unverbindliche Form der Lebensabschnittsgemeinschaft
mit der verbindlichen Form der Ehe auf eine Stufe zu stellen. Inhaltlich
bedeutet das eine Förderung der Entsolidarisierung von Menschen: Die
Übernahme von Verantwortung, die ja eins der wesentlichen Kennzeichnen
einer verbindlichen und auf Dauer angelegten Ehe ist, wird nicht mehr gefördert,
sondern sie wird mit der Flucht aus der Verantwortung bzw. der Verweigerung
der Übernahme von Verantwortung, die charakteristisch für die
Praxis der unverbindlichen Lebensabschnittsgemeinschaften ist, rechtlich
und damit letztlich auch moralisch auf eine Stufe gestellt. Eine solche
Entwicklung wird auf Dauer dem staatlichen Gemeinwesen nicht gut bekommen.
Bis Mehrheiten in Staat und Gesellschaft das aus dem Schaden, der entstehen
wird, lernen werden und wieder zum besonderen Schutz von Ehe und Familie
zurückkehren, wird aber wohl noch eine ganze Zeit vergehen. Dis dahin
gilt: Der Staat zersetzt und relativiert nach Kräften Ehe und Familie
und geht damit offen auf Konfrontationskurs zu christlichen Werten.
Auch unter Punkt 2 wird also
deutlich: Der Staat geht auf Distanz zu christlichen Werten. Die Kirche
ist gefragt, ob sie angesichts dieser Distanzierung ihrerseits in ihrem
Verhältnis zum Staat weitermachen kann wie bisher.
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3. Abkehr von der Staatsaufgabe der vorrangigen Sicherung des Friedens
Nach Barmen V hat der Staat nach göttlicher Anordnung für Recht und Frieden zu sorgen. Lange
Jahre ist es in Deutschland Konsens aller politischen Parteien und aller
wichtigen gesellschaftlichen Gruppen gewesen, daß der Staat auf keinen
Fall den Weg des Friedens verlassen darf. Im Grundgesetz wird sogar gefordert,
daß die Führung eines Angriffskriegs strafrechtlich verfolgt
wird. Die Bundeswehr hat daher immer einen reinen Defensivauftrag gehabt.
Die Bundesrepublik Deutschland und später das wiedervereinigte Deutschland
ist Mitglied in der NATO geworden, und diese NATO hat sich immer als reines
Verteidigungsbündnis verstanden.
Diese Selbstverständlichkeiten
sind in der politischen Diskussion und in der politischen Praxis inzwischen
obsolet geworden. Die NATO hat ihre Strategie dahingehend geändert,
daß "Krisenreaktionseinsätze"
,
und das heißt im Klartext Kriege, nicht mehr nur im Verteidigungsfall
möglich sein sollen. Die neue NATO-Doktrin sieht vor, daß solche
Kriege geführt werden können, wenn Sicherheitsinteressen des
Bündnisses
von
"Risiken umfassender Natur berührt werden, einschließlich
Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie
der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen [sic!]"
Mit dieser neuen Aufgabenbeschreibung
hat die NATO ihren Charakter von Grund auf geändert. Ein reines Verteidigungsbündnis
ist sie nicht mehr. Denn das ist klar: Die zitierte Formel aus Artikel
24 der NATO-Presseerklärung ist eine Allzweckformel. Im politischen
Alltag kann die NATO jederzeit irgendwelche kritischen außenpolitischen
Ereignisse als Bedrohung der Bündnisinteressen definieren und den
Casus belli als gegeben behaupten. Sie kann Kriege führen, ohne daß
eine militärische Bedrohung oder gar ein militärischer Angriff
vorliegt. Nur Naive können darauf vertrauen, daß die NATO das
nicht auch im Falle eines Falles tun wird. Dazu hat sie sich schließlich
in ihrer neuen Doktrin die Möglichkeiten geschaffen, daß sie
sie auch nutzt.
Es kann überhaupt kein
Zweifel daran bestehen, daß sich diese neue Definition des NATO-Bündnisses
nicht mit den Forderungen von Barmen V verträgt. Gewiß sorgte
die NATO immer noch unter bestimmten Voraussetzungen für Frieden,
sie kann aber auch, und das hat sie im Frühjahr 1999 aller Welt gezeigt,
durchaus einen Angriffskrieg führen, wenn sie das politisch will
Auch unter Punkt 3 muß
sich die Kirche fragen lassen, ob sie nicht stärker auf Distanz zu
einem Staat gehen sollte, der der christlichen Forderung nach Sicherung
des Friedens nur noch unter Bedingungen und in eingeschränkter Weise
nachzukommen bereit ist.
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4. Weltanschauliche Ausrichtung des Staates
Zum Konsens des Grundgesetzes
hatte es gehört, daß der Staat weltanschaulich neutral zu sein
habe. Der Staat ist für die äußere Ordnung, für Recht
und Frieden verantwortlich. Macht über die Gewissen und den Glauben
der Menschen steht ihm nicht zu. Diesen Raum hat der Staat des Grundgesetzes
ausdrücklich den Kirchen und den Religionsgemeinschaften überlassen.
Daß diese Aufgabenteilung nicht nur mit dem christlichen Denken über
den Staat übereinstimmt, ja daß sie geradezu ein Erbe der christlichen
Botschaft ist, ist allgemein bekannt: Schon Pilatus („Was ist Wahrheit?“)
hat sich als staatlicher Richter in der Wahrheitsfrage für unzuständig
erklärt, und die Märtyrer der frühen Christenheit haben
in der Ablehnung des Kaiserkultes grundsätzlich den Staat auf seine
säkularen Funktionen verwiesen und beschränkt. So hat es auch
Luther gesehen: Der Staat regiert im Bereich der äußeren Ordnung.
Er tut das notfalls mit dem Schwert. In Sachen des Glaubens jedoch regiert
allein das Wort, und niemals hat der Staat des Recht, mit den Mitteln staatlicher
Gewalt die Gewissen binden zu wollen.
Diese Aufgabenteilung wird
heute von Seiten des Staates in Frage gestellt. Klassisches Beispiel dafür
ist das Fach LER in Brandenburg, in dem der Staat sich an die Aufgabe der
weltanschaulichen Erziehung der Kinder macht. LER steht faktisch in der
Tradition des gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichts in der DDR. Das
zeigt, welchen Charakter dieses Unterrichtsfach hat: Es ist Kennzeichen
eines beginnenden Totalitarismus, in dem der Staat sich wie seinerzeit
das römische Kaiserreich erneut weltanschaulich-religiöse Autorität
anmaßt. Die Kirche klagt vor dem Verfassungsgericht gegen diesen
neuen Totalitarismus. Es bleibt abzuwarten, wie das Verfahren ausgeht.
Fest steht jedenfalls, daß die Kirche gerade auch, was einen neuen
Totalitarismus betrifft, wachsam sein muß und ihr enges Verhältnis
zum Staat einer kritischen Prüfung unterziehen sollte.
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5. Abbau der Demokratie
Das letzte Beispiel findet
möglicherweise weniger Zustimmung als die ersten vier. Dennoch darf
es in dieser Aufzählung nicht fehlen. Es geht darum, daß die
Demokratie in Europa allmählich erodiert und von demokratisch nicht
legitimierten Machtstrukturen überlagert wird. Dies ist eine Folge
des europäischen Einigungsprozesses: Es ist ja bekannt, daß
die europäischen Gremien den Grundforderungen demokratischer Verfassungen
nicht entsprechen. Das gilt nicht nur für den Ministerrat, der Entscheidungen
ohne echte parlamentarische Kontrolle trifft, das gilt auch für das
Europäische Parlament, in dem die Abgeordneten ja eine ganz unterschiedliche
Zahl von Wählern vertreten: Die Stimmen von Wählern aus Luxemburg
und Frankreich haben im Europaparlament ungleich mehr Gewicht als die Stimme
von Wählern aus Deutschland. Wahlen zum Europaparlament sind keine
allgemeinen,
gleichenund geheimen, sondern allgemeine,
ungleiche
und geheime Wahlen.
In der Einschätzung, daß
die europäischen Institutionen keineswegs demokratisch sind, sind
sich im Grunde alle politischen Beobachter einig. Die beschönigende
Sprachregelung, unter der das diskutiert wird, lautet „Demokratiedefizit“.
Dabei wird suggeriert, daß irgendwann einmal durch Reformen dieses
„Demokratiedefizit“ behoben würde. Das jedoch ist reines Wunschdenken.
Alle menschliche Erfahrung spricht dafür, daß diejenigen, die
über Entscheidungsrechte ohne demokratische Kontrolle verfügen,
alles unternehmen, um diese Rechte zu behalten. Freiwillig werden die Inhaber
von unkontrollierten Rechten diese nicht aufgeben. Es ist daher nicht damit
zu rechnen, daß das „Demokratiedefizit“ der europäischen Institutionen
irgendwann einmal verschwindet, sondern es muß davon ausgegangen
werden, daß es sich verfestigt.
Bisher war es so, daß
in der EU weitgehend das Einstimmigkeitsprinzip herrschte. Letztlich konnte
also nichts rechtsverbindlich beschlossen werden, ohne daß die demokratisch
gewählten Regierungen der Mitgliedsländer zugestimmt hatten.
So konnte also noch eine gewisse demokratische Legitimation der Beschlüsse
behauptet werden. Schließlich konnte man sich formal darauf berufen,
daß letztlich Institutionen entschieden hatten, die ohne Frage demokratisch
gewählt waren, nämlich die nationalen Regierungen und die nationalen
Parlamente. In dem Maße jedoch, in dem jetzt und in Zukunft von diesem
Einstimmigkeitsprinzip abgegangen und zum Mehrheitsprinzip übergegangen
wird, werden die demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamente
der Mitgliedsländer entmachtet. Die Macht der demokratisch nur höchst
unzureichend kontrollierten europäischen Institutionen wird sie überlagern
und ihre Beschlüsse aushebeln können. Auf diese Weise wird die
politische Gewalt in Europa Schritt für Schritt von den demokratischen
nationalen Regierungen und Parlamenten der einzelnen Staaten zu den nicht-demokratischen
Institutionen Europas übergehen. Die Demokratie wird so allmählich
zu einen Auslaufmodell. Die Demokratie als Raum der politischen Verantwortung
aller Bürger, die die EKD in ihrer Denkschrift von 1985 beschworen
hatte, wird durch Europa eingeschränkt und entwertet.
Auch diese unter Punkt 5 beschriebene
allmähliche Entdemokratisierung des Staates zwingt die Kirche zu der
Frage, ob sie weiter wie bisher am harmonischen Verhältnis von Staat
und Kirche festhalten, oder ob sie nicht doch einen Schritt auf Distanz
gehen sollte.
Als
Ergebnis von Kapitel
II bleibt festzuhalten, daß es eine ganze Reihe von Bruchstellen
gibt, an denen der Weg des Staates und das, was vom Evangelium her zu fordern
ist, auseinanderklaffen. Im einzelnen mögen die Bruchstellen als geringfügig
und tolerabel erscheinen, aufs Ganze gesehen fügen sie sich zu einem
immer klarer werdenden Bild: Staat und Kirche driften auseinander. Es könnte
schon sehr bald der Zeitpunkt kommen, an dem man sich wieder entscheiden
muß: entweder „Gnade vor der Welt und Ungnade vor Gott“ oder „Friede
mit der Welt und Streit mit Gott“.
Viele in der Kirche, gerade
in den leitenden Ämtern, werden diese Analyse so nicht mitmachen wollen.
Meist hat das allerdings biographische Gründe: Die Persönlichkeiten,
die heute die Kirche leiten, stammen ja rein biographisch aus derselben
Studentenbewegung der Achtundsechziger wie diejenigen, die heute als Minister,
Kanzler und Staatssekretäre staatliche Gesetze machen. Manche kennen
sich noch persönlich aus gemeinsamen Demonstrationen gegen Atomkraftwerke
und NATO-Raketen. Es ist menschlich nur allzu leicht verständlich,
daß die kirchenleitenden Persönlichkeiten, die aus dieser gemeinsamen
Tradition kommen, es einfach nicht sehen können oder nicht sehen wollen,
daß diejenigen, mit denen sie damals gemeinsam demonstriert haben,
jetzt eben nicht der neuen, gewandelten und sozialistisch aufgeschlossenen
Kirche die alten Rechte des Staatskirchentums weitergewähren, sondern
daß sie trotz der gemeinsamen Überzeugungen der Kirche grundsätzlich
kritisch gegenüberstehen, ihre Privilegien beschneiden und ihren Einfluß
zurückdrängen.
Manche der Oberkirchenräte
und Bischöfe reiben sich verwundert die Augen und denken, das könne
doch gar nicht so sein: Kann wirklich unser Freund und Kirchenmann Stolpe
gegen die Kirche agieren wollen, wenn er LER in den Schulen Brandenburgs
einführt und den Religionsunterricht zur Privatsache macht? Weiß
er, was er tut? - Kann es wirklich unser Synodaler und Bruder, der damalige
Ministerpräsident Rau sein, dessen Kabinett auf dem Verordnungswege
die kirchlichen Kindergärten gegenüber denen der Arbeiterwohlfahrt
massiv finanziell benachteiligt, so daß die kirchlichen Kindergärten
regelrecht verdrängt werden?
Es ist in der Tat eine Ironie
der Geschichte: Die Theologengeneration der Achtundsechziger, die ja eigentlich
von ihrer theologischen Herkunft her (Karl Barth!) eine Trennung von Kirche
und Staat hätte fordern müssen, hat allen Ernstes, als sie selbst
zu Amt und Würden gekommen war, stillschweigend darauf gehofft, daß
ihre einstigen sozialistischen Weggefährten, die nun ihrerseits hohe
und höchste staatliche Ämter bekleiden, unter neuem, fortschrittlich-ökologischem
und sozialistischem Vorzeichen eine neue Ehe von Thron und Altar gewähren
würden.
Andere Persönlichkeiten
in kirchenleitenden Ämtern sehen durchaus, was im Gange ist, stemmen
sich aber der Entwicklung entgegen. Sie wollen das Auseinanderdriften von
Staat und Kirche mit allen Kräften verhindern und gehen deshalb bis
an den Rand der Selbstaufgabe den Weg der theologischen Anpassung an die
im Staat herrschenden Lehren. Gewiß ist ist der rheinische Weg zur
Homosegnung unter anderem ein solcher, letzter und verzweifelter Versuch,
die Gemeinsamkeit zu retten und den Anschluß an die staatliche Entwicklung
nicht zu verpassen.
Es wird alles nichts helfen.
Die Bruchstellen sind da und werden sich nicht auf Dauer ignorieren oder
zukleistern lassen. Staat und Kirche driften auseinander. Die Kirche sollte
nicht leichtfertig über diese Dinge hinweggehen und den Kopf in den
Sand stecken. Um der Klarheit ihres Wortes willen ist sie gefordert, auf
die neuen Herausforderungen neue Antworten zu suchen. Und wenn die Kirche
das nicht wahrhaben will, der Staat wird schon dafür sorgen, daß
die Dinge klar werden. Und vermutlich wird er das Tempo noch verschärfen.
In absehbarer Zeit jedenfalls wird er auch unter sozialistischem Vorzeichen
kein neues Bündnis von Thron und Altar eingehen. Die Kirche sollte
in Würde und Freiheit in die neue Situation hineingehen, bevor ihr
der Staat höflich, aber bestimmt den Stuhl vor die Tür setzt.
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III Unterwegs als Fremdlinge
Die Situation
hat sich geändert. Wir Christen müssen uns auf die veränderte
Situation einstellen und von Grund auf neue Wege gehen. Die Minderheitensituation
müssen wir erkennen und annehmen. Und wir müssen angemessen darauf
reagieren. Selbstverständlich wäre an dieser Stelle vieles zu
nennen, was notwendig ist. Ich beschränke mich auf die folgenden Punkte:
1. Das Wichtigste zuerst: Der Wandel beginnt im Kopf!
Im Grunde ist die Situation, die vor uns Christen liegt, nichts Neues. Die
Christen der ersten Jahrhunderte haben nichts anderes erlebt. Sie haben
in einem ganz und gar nicht christlichen Staat leben müssen. Gladiatorenkämpfe
hat es in diesem Staat gegeben und ein ausgedehntes Sklavenhaltungssystem.
In der Politik ging es alles andere als demokratisch zu und im täglichen
Leben regierten Lug und Betrug.
Zur Illustration dessen, wie
die Christen damals ihre Umwelt gesehen und erlebt haben, zitiere ich auszugsweise
aus der Schrift des Cyprian von Karthago "An Donatus"
:
"Stelle dir vor, du seiest für kurze Zeit auf den hochragenden Gipfel
eines steilen Berges entrückt! Betrachte dir von hier aus das Bild
der Dinge unter dir, laß deine Augen nach allen Seiten schweifen
und sieh dir, selbst von jeder irdischen Berührung frei, die Wirbel
an, in denen sich die hin- und herwogende Welt bewegt! ... Sieh nur, wie
die Straßen von Wegelagerern versperrt, wie die Meere von Seeräubern
besetzt und wie Kriege mit dem blutigen Greuel des Lagerlebens über
alle Länder verbreitet sind! Es trieft die ganze Erde von gegenseitigem
Blutvergießen. ... Wendest du nun mehr deine Augen und dein Gesicht
den Städten zu, so wirst du da ein Gewühl finden, noch betrübender
als alle Einsamkeit. Da rüstet man zu einem Fechterspiele, damit Blut
die Gier grausamer Augen letze. ... Der eine Mensch wird hingemordet zum
Vergnügen des anderen, und daß einer zu morden versteht, das
heißt Geschicklichkeit ... Wende von hier deine Blicke auf den nicht
minder verwerflichen Einfluß eines anderen Schauspiels! Auch in den
Theatern wirst du nur zu sehen bekommen, was dir Schmerz und Scham erregt.
Tragische Dichtkunst heißt man es, wenn man Missetaten aus alten
Zeiten in Versen wiedergibt. Der alte Greuel von Vatermord und Blutschande
wird in wahrheitsgetreuer Darstellung von neuem vorgeführt. ... Da
macht es Vergnügen, in den mimischen Spielen, der Schule aller Schändlichkeiten,
wiederzuerkennen, was man daheim schon getrieben hat, oder zu hören,
was man noch treiben könnte. Den Ehebruch lernt man, indem man ihn
sieht, und wie ja ein Übel, das in allgemeinem Ansehen steht, zu Lastern
verführt, so kehrt dieselbe Frau, die vielleicht als keusche Matrone
zum Schauspiel gegangen ist, unkeusch aus ihm zurück. ... O könntest
du erst, auf jener hohen Warte stehend, mit deinen Augen ins Verborgene
dringen, könntest du noch die verschlossenen Türen der Schlafgemächer
aufschließen und die geheimen Räume im Inneren dem forschenden
Blick der Augen eröffnet! ... Dinge würdest du sehen, deren Anblick
schon ein Verbrechen ist, Dinge, deren Verübung die von der Raserei
des Lasters Betörten ableugnen, um sie doch eiligst wieder zu verüben.
In toller Lust stürzen sich Männer auf Männer ... nach all
dem könntest du dir vielleicht einbilden, das Forum wenigstens sei
makellos und bleibe frei von verletzender Ungerechtigkeit ... Aber richte
nur dorthin deinen Blick! Nur noch mehr wirst du dort finden, was deinen
Abscheu erregt ... inmitten der Gesetze selbst frevelt, inmitten der Rechte
sündigt man, und die Unschuld wird nicht einmal dort bewahrt, wo man
sie verteidigt. Rasend tobt die Wut der einander befehdenden Parteien ...
und das Forum hallt wieder von dem Brüllen wahnwitziger Prozesse.
... Wer aber soll Hilfe bringen? Der Anwalt? Aber der treibt ja nur ein
unredliches und trügerisches Spiel. Oder der Richter? Aber der verkauft
ja seine Stimme. Er, der zu Gericht sitzt, um die Freveltaten zu bestrafen,
frevelt ja selbst ... Das Recht hat mit dem Verbrechen einen Bund geschlossen,
und allmählich gilt das als erlaubt, was allgemein geschieht."
Cyprian von Karthago, einst
selbst ein erfolgreicher und keineswegs tugendhafter Rhetor, dem es mehr
um die Verdrehung des Rechts und um den Profit gegangen ist als um die
Gerechtigkeit, hat diese Schrift etwa um 246 n.Chr., kurz nach seiner Bekehrung
und Taufe, in Karthago verfaßt. Er hat darin das durch und durch
unchristliche Leben der Menschen im römischen Reich mit moralischem
Abscheu geschildert und gegeißelt. Vieles von dem, was er damals
gesehen und geschildert hat, läßt sich auch im Blick auf die
heutige Zeit sagen. Der Unterschied allerdings ist, daß die Christen
damals überhaupt keine Zweifel daran hatten, daß sie nur im
Konflikt und Widerspruch mit dieser Welt ihr Christsein leben konnten,
während heute noch viele Christen meinen, man könne Frieden mit
Gott haben und gleichzeitig Frieden mit der Welt. So etwas gibt es heute
nicht mehr. Im Grunde hat es das nie gegeben! Die Christen der ersten Jahrhunderte
hat bei allen theologischen Unterschieden, die sie hatten, doch eines verbunden:
das Gefühl der Fremdheit in der Welt. Sie waren sich dessen bewußt,
daß die Welt anderes will als Gott, und sie sind überhaupt nicht
überrascht gewesen, wenn sie auf Grund ihres Christseins in der Welt
Feindschaft, Unverständnis und Verleumdung erleben mußten. Aber
das hat sie nicht gekümmert! Sie wußten um die Wahrheit und
brauchten sich deshalb um die Zustimmung in der Welt keine Sorge zu machen.
Zu dieser inneren Haltung müssen
wir Christen heute zurückfinden. Der Anfang muß in unserem Kopf
geschehen! Wir Christen sind Fremde in der Welt. Wir haben als Kinder Gottes
andere Aufgaben und sind anderen Zielen verpflichtet als die Kinder der
Welt. Daß die Mehrheit anders denkt als wir, daß Politik und
Gesetzgebung allem anderen als christlichen Werten verpflichtet sind, daß
der Staat die Kirchen Schritt für Schritt zu marginalisieren versucht,
brauchen wir nicht mit Erschrecken, sondern sollen wir mit Festigkeit zur
Kenntnis nehmen. Nichts anderes können wir erwarten. Es wäre
vollkommen aussichtslos und darüber hinaus zutiefst würdelos,
wollten wir um des Ansehens in der Welt, um des Erfolgs bei den Massen
und um der Rettung der letzten staatskirchlichen Privilegien willen einen
Weg der Anpassung an die Welt versuchen.
"Die Welt vergeht mit ihrer Lust;
wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit."
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2. Neue Freiheit
Wenn der Wandel im Kopf vollzogen
ist und wir Christen unsere Fremdheit in der Welt nicht nur erkannt, sondern
auch theologisch begrüßt und akzeptiert haben, dann erfolgt
der zweite Schritt automatisch: Wir erkennen, daß die Einsicht in
die Fremdheit Freiheit schenkt. Es besteht nicht mehr der Zwang, um der
Harmonie mit Staat und Gesellschaft willen falsche Kompromisse zu schließen.
Wir sind frei, wirklich nur dem zu folgen, was uns von unserem Herrn aufgetragen
ist. Rücksichtnahmen auf Mehrheitsmeinungen, die uns vorher nur gelähmt
haben, diplomatisches Verhandeln mit staatlichen Stellen, das uns nur eingeengt
hat, sind nicht länger notwendig. In aller Nüchternheit müssen
wir erkennen: Der Staat hat einen anderen Auftrag als die Kirche, und die
im Staat Herrschenden wollen meist etwas anderes als wir Christen. Wir
sind frei, endlich frei von den Fesseln des Bündnisses von Thron und
Altar.
Die neue Freiheit wird sich
zuerst in der Verkündigung auswirken müssen und können.
Wenn die Kirche die falschen diplomatischen Rücksichtnahmen über
Bord geworfen hat, wird sie klarer und eindeutiger als in der Vergangenheit
die Dinge beim Namen nennen können. Sie wird wieder lernen, Böses
als böse und Sünde als Sünde zu ächten, auch wenn der
jeweilige Bundeskanzler, der Ministerpräsident und Staatssekretär,
auch wenn die Moderatoren in den Talkshows des Fernsehens und die Meinungspäpste
in den Leitartikelspalten der großen Tageszeitungen es zu rechtfertigen
versuchen. Auch kirchenleitende Persönlichkeiten werden die Freiheit
haben, einen Angriffskrieg einen Angriffskrieg zu nennen. Die Kirche wird
es wieder wagen, die Abtreibung eines ungeborenen Kindes als ein abscheuliches
Verbrechen zu bezeichnen. Die ausufernde Pornographie in Kunst, Medien
und Literatur wird sie öffentlich als einen Angriff auf die Menschenwürde
zu verdammen wagen und als zynische Vergiftung der Seelen unserer Kinder
und Jugendlichen verurteilen. Aktive Sterbehilfe wird sie nicht nur in
akademischen Stellungnahmen ablehnen, sondern sie wird sie ein Verbrechen
nennen und das Herumexperimentieren mit menschlichen Embryonen und embryonalen
Stammzellen als verwerfliche Instrumentalisierung und Tötung menschlichen
Lebens. Und in dieser neuen Freiheit wird die Kirche neue Glaubwürdigkeit
gewinnen, eine Glaubwürdigkeit, die durch allzu viele Kompromisse
mit Staat und Gesellschaft weithin verloren gegangen ist.
Ganz gewiß wird diese
neue Freiheit zunächst nur an der Basis der Kirche, in den Gemeinden
und den kleinen Gruppen der Christen erfahren werden können. Die kirchenleitenden
Persönlichkeiten werden, weil sie unmittelbar mit den Spitzen des
Staates im Geschäft sind, noch für einen längeren Zeitraum
gebunden sein und die Freiheit nur sehr eingeschränkt leben können.
Uns an der Basis der Kirche, die wir kaum Einfluß in kirchenleitenden
Gremien haben, sollte diese Erkenntnis Zurückhaltung auferlegen, was
allzu scharfe Kritik an den Brüdern und Schwestern im kirchenleitenden
Amt betrifft: Viele von ihnen meinen, sie könnten die Bruchstellen
noch verkleistern und das Bündnis mit der Welt noch ein letztes Mal
retten. Deshalb sind sie nicht so frei, wie sie gerne wären. Statt
sie persönlich anzugreifen, sollten wir ihnen die neue Freiheit vorleben.
Die Zeit ist nicht mehr fern, in der auch die Kirchenleitungen und Bischöfe
das Auslaufen des Bündnisses von Thron und Altar als Befreiung erleben
und entsprechend handeln und reden werden. Die gegenwärtig noch in
den Führungsetagen unserer Kirche zu beobachtende Politik der Anpassung
und der taktierenden Kompromisse ist durch die Entwicklung im Grunde längst
überholt.
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3. Auf eigenen Füßen stehen
In vielen Großstädten
wird heute darüber nachgedacht, wie die Kirche angesichts des rapiden
Verfalls der kirchlichen Finanzen ihre großen alten Kirchen erhalten
soll. Manche Kirchen werden aufgegeben und in Museen oder Konzertsäle
verwandelt. Manche können nur noch notdürftig erhalten werden,
wobei der Zeitpunkt absehbar ist, an dem sie wegen Baufälligkeit geschlossen
werden müssen. Diese Entwicklung ist ein Symbol für das Ganze:
In Zeiten des Staatskirchentums, als die Kirche überreich mit Finanzmitteln
ausgestattet war, als es auch noch in weiten Kreisen des Bürgertums
zum guten Ton gehörte, wenigstens ab und zu sonntags den Gottesdienst
zu besuchen, war der Anzug, den sich die Kirche hat schneidern lassen,
angemessen und selbstverständlich auch finanzierbar. Das ist anders
geworden. Der Anzug ist zu groß. Er kann nicht mehr bezahlt, er kann
nur noch notdürftig geflickt und ein drittes und viertes Mal gewendet
werden. Er kann auch nicht mehr in ausreichendem Maße mit kirchlichem
Leben gefüllt werden. Das gilt nicht nur für die Kirchengebäude,
sondern auch für eine Vielfalt von großdimensionalen kirchlichen
Sozialeinrichtungen.
Die Kirche wird lernen müssen,
auf eigenen Füßen zu stehen. Dazu ist es erforderlich, daß
sie sich zunächst einen kleineren Anzug zulegt. Nur noch das sollte
sie aufgreifen, nur noch solche Gebäude errichten, nur noch solche
Sozialeinrichtungen beginnen, die sie auf Dauer aus eigener Kraft erhalten
kann. Alles andere würde in den Ruin führen. Dazu kann auch gehören,
daß die Kirche, wie es ihr z.B. die staatlichen Verwaltungen, aber
auch die kommerziellen Banken und Warenhäuser längst vorgemacht
haben, hier und dort einen Rückzug aus der Fläche betreibt. Davor
sollten wir keine Angst haben. Gegen Null wird der Anzug der Kirche nicht
tendieren. Er wird kleiner werden, aber vielleicht wird er statt dessen
einen besseren Zuschnitt haben und so gut aussehen wie ein Maßanzug.
Auch wenn sich diese Entwicklung
abzeichnet, sollte die Kirche nicht mutwillig und in vorauseilendem Gehorsam
freiwillig auf Rechte verzichten, die ihr zustehen. Von sich aus sollte
sie die Kirchensteuer nicht zur Disposition stellen, sie sollte sich aber
darauf einstellen, daß sie eines Tages fällt oder durch weitere
Steuerreformen immer mehr an Ertragskraft verliert. Von sich aus sollte
die Kirche den Religionsunterricht in den Schulen nicht aufgeben. Im Gegenteil,
es ist vollkommen richtig, daß sie vor dem Bundesverfassungsgericht
gegen das Land Brandenburg klagt. Hoffentlich bleibt sie standfest und
läßt sich vom Verfassungsgericht, das offensichtlich unwillig
ist, seine Pflicht zu tun und Recht zu sprechen, nicht zu einem faulen
Kompromiß verleiten. Nüchtern die eigene Fremdheit in der Welt
zu erkennen und ebenso nüchtern und zur Not kämpferisch die eigenen
Rechte gegenüber dem Staat zu verteidigen, ist kein Widerspruch. Das
eine ist die Voraussetzung des anderen: Nur wer sich frei gemacht hat von
diplomatischer Rücksichtnahme auf Mehrheiten und politische Autoritäten,
kann zäh und beharrlich die eigenen Rechte verteidigen. Denn er weiß,
daß er ein höheres, ein besseres Recht vertritt als der weithin
unchristliche und ins Heidentum zurückfallende Staat.
4. Neue Stärke
Wenn die Kirche diesen Weg
gegangen ist, dann wird sie neue Stärke gewinnen. Solange sie versucht,
die alte Ehe von Thron und Altar zu retten, bleibt sie in der Defensive.
Sie verliert die Initiative des Handelns und schwächt ihre Position.
Erst wenn sie auf eigenen Füßen steht und frei und ungebunden
das Wort sagt, das zu sagen ihr aufgetragen ist, gewinnt sie die Offensive
zurück. Dann kann sie das Gesetz des Handelns an sich reißen,
kann selbst die Themen bestimmen, statt immer nur auf die Themen zu reagieren,
die Staat und Gesellschaft vorgeben. Dann wird sie auch neuen Zuspruch
bei den Menschen finden und den Abwärtstrend umkehren.
Martin Luther hat in seiner
frühen Galaterbriefvorlesung dargelegt, daß man nicht beides
haben kann, Frieden mit Gott und Frieden mit der Welt. In Deutschland haben
die reformatorischen Kirchen vor dieser Erkenntnis jahrhundertelang die
Augen verschlossen. Heute und in naher Zukunft werden sie von der Entwicklung
in Staat und Gesellschaft dazu gezwungen werden, ihre Augen zu öffnen.
Angst brauchen sie davor nicht zu haben. Die Erkenntnis der Wahrheit wird
ihnen neue Freiheit und neue Stärke schenken.
Wir Christen sind Fremdlinge
in der Welt, auserwählte Fremdlinge, wie Petrus schreibt. Wir wohnen
verstreut in "Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien"
- in Deutschland und Indonesien, Frankreich und Brasilien, Kenia und den
USA -. Sei's drum!
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