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An dieser Stelle wird ein Aufsatz des Vorsitzenden des Lutherischen Konvents im Rheinland abgedruckt, der in Heft 3/2001 in den Lutherischen Nachrichten erschienen ist. Dieser Aufsatz soll ein Beitrag zur Strategie der Kirche und des Lutherischen Konvents im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft sein.

Die These ist: Das Verhältnis von Staat und Kirche, von Gesellschaft und Christen, muß neu, und zwar im Sinne einer größeren Distanz justiert werden. Staat und Gesellschaft entwickeln sich in zunehmendem Maße von den Vorstellungen der Christentums fort. Sie sind dabei, wesentliche christliche Werte aufzugeben bzw. zu zerstören. Dies wird beispielhaft an wesentlichen zeitgeschichtlichen Entwicklungen aufgezeigt. Das Konstantinische Zeitalter geht daher wirklich seinem Ende entgegen. Die Kirche und die Christen müssen sich daher als Fremdlinge in der Welt begreifen. Sie müssen sich verstärkt auf ihren eigenen, geistlichen Auftrag besinnen und alle Versuche, den Riß zu kitten, und alle würdelosen Formen der Anpassung  an die Welt aufgeben. Erst wenn sie das tun, werden sie ihre Krise überwinden und neue Stärke gewinnen können.

Der Aufsatz ist vor dem 11. September 2001 verfaßt worden. Er geht daher nicht auf die Terroranschläge in den USA ein. Bewußt wurde darauf verzichtet, dazu noch etwas zu sagen, da die Terroranschläge und die neue Herausforderung, die von großen Teilen des Islam auf die westliche Welt zukommen, nichts Grundsätzliches an den Thesen des Aufsatzes ändern. Diese Entwicklung ist eher eine zusätzliche Unterstützung der vorgetragenen Thesen.

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An die auserwählten Fremdlinge1

Reiner Vogels

An die auserwählten Fremdlinge, die verstreut wohnen in Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien hat Petrus den ersten Brief adressiert. Und mit diesem Wort „Fremdlinge“, hat er die Christen insgesamt bezeichnet. Denn das war ihm mit allen anderen Christen seiner Zeit selbstverständliche Überzeugung, daß Christen Fremdlinge sind in der Welt, daß also die Welt andere Wege geht und andere Ziele verfolgt als die Christen. Eine Einheit von Staat und Kirche, etwas wie die spätere Ehe von Thron und Altar in der Zeit nach Konstantin, war für Petrus wie für die anderen Christen auch eine absolute Denkunmöglichkeit. Mit Konstantin ist das dann anderes geworden. Seit der konstantinischen Wende ist es für das gesamte Mittelalter die herrschende Lehre gewesen, daß Kirche und Staat, Christen und politische Bürger, Bischöfe und Fürsten einem gemeinsamen Ziel verpflichtet seien und daß es die Aufgabe der Christenheit sei, Staat und Gesellschaft zu christianisieren.

Am Ende des Mittelalters dann wird diese "Selbstverständlichkeit" nicht zuletzt in der Reformation Martin Luthers in Frage gestellt: In der „kleinen“ Galaterbriefvorlesung von 1516/1517 betont Luther zu Gal. 1,3, daß es ein Entweder-Oder gibt zwischen dem Frieden mit Gott und dem Frieden mit der Welt:"Hec enim gratia spiritualis est et occulta, quia aufert peccata et offensas occultissime tegit, sed eoipso infert offensas hominum, carnis et diaboli. - Diese Gnade nun ist geistlich und verborgen, weil sie die Sünden aufhebt und die Anstöße im Verborgenen zudeckt, genau dadurch Aggressivität der Menschen, des Fleisches und des Teufels hervorruft"2.

Unabhängig davon, was man ansonsten zur Terminierung des „reformatorischen Durchbruchs“ bei Luther sagen mag, in der theologischen Beurteilung des Spannungsverhältnisses, in dem der Christ in der Gesellschaft steht, hat Luther mit dieser Äußerung offensichtlich und eindeutig den Bruch mit der mittelalterlichen Ehe von Imperium und Sacerdotium vollzogen.

Luther hat gegenüber dem mittelalterlichen Einheitsdenken schon in der frühen Zeit der 1. Galaterbriefvorlesung erkannt und gelehrt, daß es zwischen Gott und Welt am Ende keine Kompromisse gibt. Die Welt steht Gott feindlich gegenüber. Sie läßt sich letztlich nicht christianisieren. Der Staat läßt sich nicht zur Kirche und das Dorf nicht zum Kloster gestalten. Wer Frieden mit Gott hat, wird früher oder später im Unfrieden mit der Welt leben, und wer mit der Welt seinen Frieden geschlossen hat, kann nicht im Frieden mit Gott leben. Fleisch, Menschen, Teufel und Welt sieht Luther in der Galaterbriefvorlesung in einer Linie, in einer Linie, die gegen Gott gerichtet ist und sich gegen ihn auflehnt. Deshalb stellt er abschließend fest:"quadam libra sese componderant ista 4: gratia dei et indignatio mundi pax dei, turbatio mundi gratia mundi et indignatio dei pax mundi, turbatio dei".3 - Daher sind wie in einer Waage diese vier Dinge etwa im Gleichgewicht: Gnade Gottes und Ungnade der Welt Friede mit Gott und Streit in der Welt Gnade vor der Welt und Ungnade vor Gott Friede mit der Welt und Streit mit Gott.

In diesem Artikel soll die Frage gestellt werden, ob das Fremdheitsbewußtsein der frühen Christenheit und die Alternativen Luthers heute noch Gültigkeit beanspruchen können oder ob sie durch die harmonische Entwicklung in Staat und Kirche überholt worden sind. In Frage soll dabei vor allem das Verhältnis von Kirche und Staat, Kirche und Gesellschaft stehen. Der Artikel ist in drei Kapitel gegliedert: Nach einem kurzen historischen Rückblick, überschrieben "Harmonie in den nachreformatorischen Jahrhunderten", sollen in Kapitel II unter der Überschrift "Bruchstellen heute" heutige Konfliktfelder beschrieben werden. In Kapitel III schließlich soll unter der Überschrift "Unterwegs als Fremdlinge" über mögliche Konsequenzen nachgedacht werden.

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I Harmonie in den nachreformatorischen Jahrhunderten

Die reformatorischen Kirchen haben bis in das 20. Jahrhundert hinein von der Erkenntnis Luthers aus der frühen Galaterbriefvorlesung nur sehr sparsam Gebrauch gemacht. Letztlich ohne Bedenken und ohne große Auflehnung haben sie in den verschiedensten Formen des Staatskirchentum in äußerst loyaler Haltung gegenüber den staatlichen Machthabern das Bündnis von Thron und Altar fortgesetzt und die daraus resultierenden Privilegien in Anspruch genommen. Nach dem Ersten Weltkrieg ist in Deutschland zum ersten Mal dieses Miteinander in Frage gestellt worden. Wortführer waren die Theologen der „Dialektischen Theologie“, vor allem der sozialistisch geschulte schweizerische Theologe Karl Barth und seine Schule. Bei allem, was man aus lutherischer Sicht kritisch zur barthschen Theologie sagen kann und sagen muß, ist es aus heutiger Sicht wohl als sein bleibendes Verdienst zu werten, daß endlich einmal offen die grundsätzliche wechselseitige Distanz und Fremdheit von Staat und Kirche, Thron und Altar auf die Agenda der Theologie gekommen ist. Barth und die Barthianer sind dabei nicht allein geblieben. Spätestens in der Zeit des Nationalsozialismus haben reformierte und lutherische Christen, barthianische und lutherische Theologen gemeinsam das unverwechselbar Eigene der Kirche betont und in kämpferischer Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat durchgehalten. Manche haben dafür als Märtyrer ihr Leben gelassen.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben dann allerdings sowohl die Barthschule als auch die lutherischen Kirchen die Distanz gegenüber Staat und Gesellschaft nur sehr unvollkommen und am Ende überhaupt nicht mehr durchgehalten. Dies gilt jedenfalls für die Entwicklung in der Westhälfte Deutschlands. Grund dafür ist die richtige Überzeugung gewesen, daß der neue, demokratische Staat einen völlig anderen Charakter hatte als das Unrechtsregime der Nationalsozialisten. Der Staat des Grundgesetzes war ein Rechtsstaat. Fundamentale Menschenrechte wurden durch die Verfassung garantiert. Und auch wesentliche christliche Grundwerte, wie z.B. das Sozialstaatsprinzip, der Schutz von Ehe und Familie, der unbedingte Schutz des Lebens, hatten in die Verfassung Eingang gefunden und waren auch in der Verfassungswirklichkeit in Geltung.

Die Evangelische Kirche hat daraus die Konsequenz gezogen, daß sie den demokratischen Staat nicht mehr nur entsprechend der "von Martin Luther bestimmte(n) theologische(n) Tradition" als vor allem von der "Sündhaftigkeit und Fehlbarkeit des Menschen“ her zu legitimierende „Anordnung Gottes"4, also gewissermaßen als notwendiges Übel, zu verstehen gesucht hat, sondern als Raum, in dem die "Verantwortungsfähigkeit des Menschen"5 ihre legitime Betätigung findet. Sie kam so zu einer grundsätzlich positiven Sicht des demokratischen Rechtsstaates: "Die politische Verantwortung ist im Sinne Luthers 'Beruf' aller Bürger in der Demokratie."6

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II Bruchstellen

Ganz ohne Frage hat die Evangelische Kirche damals Richtiges gesagt, und ganz ohne Frage sollte die Kirche zum demokratischen Rechtsstaat in einem grundsätzlich positiven Verhältnis stehen. Zu fragen ist allerdings, ob das heute noch so gilt wie in der Mitte der achtziger Jahre. Geschichte bleibt nicht stehen, und die Verhältnisse sind einem ständigen Wandel unterworfen. Deshalb muß das Verhältnis der Kirche und der Christen zum Staat immer wieder neu überprüft und justiert werden. Heute ist es an der Zeit, das zu tun, da sich seit 1985 in der Tat einiges, und zwar mehr als nur Nebensächliches geändert hat. Es könnte sein, daß heute wieder stärker auf die grundsätzlichen Alternativen Luthers zurückgegriffen werden muß. Es könnte sein, daß die Christen erneut von Petrus lernen und sich als Fremdlinge in Staat und Gesellschaft begreifen müssen. Der Staat ist nämlich offenbar nicht mehr in solchem Ausmaß wie der Grundgesetzstaat von 1948 eine Bastion christlicher Werte und Menschenrechte. Zumindest muß man konstatieren, daß viele Werte und Menschenrechte, die über Jahrzehnte hinweg Gültigkeit hatten, heute in zunehmendem Maße in der öffentlichen Diskussion und dann auch in der Gesetzgebung zur Disposition gestellt werden. Die folgenden Beispiele sollen das demonstrieren:

1. Einschränkung des Rechts auf Leben


1.1 Abtreibung
Schon in der von allen großen Parteien zu verantwortenden liberalen Abtreibungsgesetzgebung, die de facto das Lebensrecht ungeborener Kinder der Willkür der Erwachsenen unterstellt hat, ist der grundgesetzliche Schutz des Lebens mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts erheblich relativiert worden. Heute wird dieser Weg sowohl am Anfang als auch am Ende des Lebens weiter beschritten. Insofern hat Präses Kock Unrecht, wenn er im Blick auf Stammzellenforschung und Präimplatationsmedizin von einem „ethischen Dammbruch“ spricht. Der Dammbruch ist in der Abtreibungsgesetzgebung (leider mit Zustimmung der Evangelischen Kirche!) längst erfolgt.
1.2 Am Ende des Lebens
Offen wird darüber diskutiert, ob man die „Euthanasie“-Gesetzgebung Hollands nicht auch in Deutschland nachvollziehen sollte. Es geht dabei im Kern darum, ob Menschen einem unheilbar Kranken eine Todesspritze geben sollten und dürfen. In Holland ist das seit langem gängige Praxis. Noch bevor diese Praxis durch den Gesetzgeber legalisiert worden ist, haben Ärzte über viele Jahre hinweg alte und kranke Menschen zu Tode gespritzt. Jetzt hat der Staat diese Praxis unter bestimmten Bedingungen für rechtens erklärt. Daß dies gegen Gottes Gebot gerichtet ist, bedarf keiner Begründung. Es ist offenkundig. Am Ende des Lebens will der Mensch sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwingen. In verwegener Auflehnung greift er damit in die Kompetenzen Gottes ein. Zudem muß die Frage gestellt werden, ob man durch einen vorzeitig herbeigeführten Tod dem Sterbenden nicht noch die Chance nimmt, vor seinem Tode sein Verhältnis zu Gott und also zu seinem himmlischen Richter in Ordnung zu bringen. Verhängnisvoll wäre es, wenn ein Mensch durch eine ärztliche Todesspritze dazu gebracht würde, daß er ohne Frieden mit Gott sterben müßte, obwohl Gott ihm eigentlich noch eine Zeit zur Umkehr und Buße eingeräumt hatte.
1.3 Am Anfang des Lebens
Auch am Anfang des Lebens ist der Mensch dabei, sich Rechte anzumaßen, die ihm nicht zustehen. Stichworte sind: Klonen von Embryonen, Experimentieren mit (d.h. Töten von) embryonalen Stammzellen, Präimplantationsdiagnostik. Gewiß, noch sind die Gesetze in Deutschland nicht beschlossen. Der Bundeskanzler hat eine Ethikkommission berufen, die die Dinge erst noch einmal beraten soll. Es dürfte aber klar sein, daß diese Kommission nur aufschiebende Wirkung haben wird. Der politische Zweck, mit dem der Kanzler diese Kommission berufen hat, besteht ja gerade darin, daß in der Öffentlichkeit Lernprozesse in Richtung auf eine gradualistische Aufweichung des Rechts auf Leben angeregt und gesteuert werden, so daß am Ende die Gesetze gemacht werden können, die diejenigen, denen es vor allem um den Wirtschaftsstandort Deutschland geht, schon so lange fordern.

Festzustellen bleibt unter Punkt 1, daß der Staat sich Schritt für Schritt vom christlich geforderten Schutz des Lebens verabschiedet. Dies muß zu einer Anfrage an das harmonische Miteinander von Kirche und Staat werden.

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2. Angriff des Staates auf Ehe und Familie

In diesem Jahr ist in Deutschland wie in vielen anderen westlichen Staat zuvor ein Gesetz in Kraft getreten, das nur als ein gezielter Angriff auf Ehe und Familie zu werten ist, die ja auf dem Papier immer noch unter dem Schutz des Grundgesetzes stehen. Es handelt sich darum, daß eine Verbindung homosexueller Paare rechtlich praktisch mit einer Ehe gleichgestellt wird. Das bedeutet natürlich im Umkehrschluß, daß Ehe und Familie eben nicht mehr als etwas Besonderes zu gelten haben, daß sie also keineswegs mehr unter dem besonderen Schutz des Staates stehen.

Daß dies in fundamentalem Gegensatz zum biblischen Zeugnis und zum christlichen Verständnis der Ehe steht, braucht nicht mehr nachgewiesen zu werden. Für jeden, der die Bibel unbefangen liest, ist das evident. Nur eine absichtliche Verfälschung biblischer Texte, wie sie für das rheinische Papier „Sexualität und Lebensformen“ von 1996 kennzeichnend ist, kann aus der Bibel eine Rechtfertigung homosexuellen Verhaltens herauslesen. Auf der anderen Seite ist es ebenfalls evident, daß die Bibel und die gesamte christliche Tradition für die Ehe als lebenslange Verbindung von Mann und Frau eintreten. Es ist offenkundig, daß dieser Ehe die Verheißung gegeben ist, daß sie das Leben weitergeben soll- sie steht unter dem Segen Gottes! Und es ist ebenfalls offenkundig, daß diese Ehe durch das Gebot Gottes und durch klare Worte Jesu Christi in besonderer Weise geschützt wird.

Auch in einem anderen Bereich unternimmt der Staat einen konsequenten Angriff auf die besondere Stellung von Ehe und Familie, nämlich in dem seit Jahren zu beobachtenden Bemühen, nicht-eheliche Lebensabschnittsgemeinschaften von Mann und Frau rechtlich so weit wie möglich der Ehe gleichzustellen. Daß auch durch diese Bestrebungen der besondere Schutz von Ehe und Familie relativiert und schließlich abgeschafft wird, ist offensichtlich. Der Staat arbeitet also de facto daran, die unverbindliche Form der Lebensabschnittsgemeinschaft mit der verbindlichen Form der Ehe auf eine Stufe zu stellen. Inhaltlich bedeutet das eine Förderung der Entsolidarisierung von Menschen: Die Übernahme von Verantwortung, die ja eins der wesentlichen Kennzeichnen einer verbindlichen und auf Dauer angelegten Ehe ist, wird nicht mehr gefördert, sondern sie wird mit der Flucht aus der Verantwortung bzw. der Verweigerung der Übernahme von Verantwortung, die charakteristisch für die Praxis der unverbindlichen Lebensabschnittsgemeinschaften ist, rechtlich und damit letztlich auch moralisch auf eine Stufe gestellt. Eine solche Entwicklung wird auf Dauer dem staatlichen Gemeinwesen nicht gut bekommen. Bis Mehrheiten in Staat und Gesellschaft das aus dem Schaden, der entstehen wird, lernen werden und wieder zum besonderen Schutz von Ehe und Familie zurückkehren, wird aber wohl noch eine ganze Zeit vergehen. Dis dahin gilt: Der Staat zersetzt und relativiert nach Kräften Ehe und Familie und geht damit offen auf Konfrontationskurs zu christlichen Werten.

Auch unter Punkt 2 wird also deutlich: Der Staat geht auf Distanz zu christlichen Werten. Die Kirche ist gefragt, ob sie angesichts dieser Distanzierung ihrerseits in ihrem Verhältnis zum Staat weitermachen kann wie bisher.

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3. Abkehr von der Staatsaufgabe der vorrangigen Sicherung des Friedens

Nach Barmen V hat der Staat nach göttlicher Anordnung für Recht und Frieden zu sorgen. Lange Jahre ist es in Deutschland Konsens aller politischen Parteien und aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppen gewesen, daß der Staat auf keinen Fall den Weg des Friedens verlassen darf. Im Grundgesetz wird sogar gefordert, daß die Führung eines Angriffskriegs strafrechtlich verfolgt wird. Die Bundeswehr hat daher immer einen reinen Defensivauftrag gehabt. Die Bundesrepublik Deutschland und später das wiedervereinigte Deutschland ist Mitglied in der NATO geworden, und diese NATO hat sich immer als reines Verteidigungsbündnis verstanden.

Diese Selbstverständlichkeiten sind in der politischen Diskussion und in der politischen Praxis inzwischen obsolet geworden. Die NATO hat ihre Strategie dahingehend geändert, daß "Krisenreaktionseinsätze"7, und das heißt im Klartext Kriege, nicht mehr nur im Verteidigungsfall möglich sein sollen. Die neue NATO-Doktrin sieht vor, daß solche Kriege geführt werden können, wenn Sicherheitsinteressen des Bündnisses8 von "Risiken umfassender Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen [sic!]"9

Mit dieser neuen Aufgabenbeschreibung hat die NATO ihren Charakter von Grund auf geändert. Ein reines Verteidigungsbündnis ist sie nicht mehr. Denn das ist klar: Die zitierte Formel aus Artikel 24 der NATO-Presseerklärung ist eine Allzweckformel. Im politischen Alltag kann die NATO jederzeit irgendwelche kritischen außenpolitischen Ereignisse als Bedrohung der Bündnisinteressen definieren und den Casus belli als gegeben behaupten. Sie kann Kriege führen, ohne daß eine militärische Bedrohung oder gar ein militärischer Angriff vorliegt. Nur Naive können darauf vertrauen, daß die NATO das nicht auch im Falle eines Falles tun wird. Dazu hat sie sich schließlich in ihrer neuen Doktrin die Möglichkeiten geschaffen, daß sie sie auch nutzt.

Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß sich diese neue Definition des NATO-Bündnisses nicht mit den Forderungen von Barmen V verträgt. Gewiß sorgte die NATO immer noch unter bestimmten Voraussetzungen für Frieden, sie kann aber auch, und das hat sie im Frühjahr 1999 aller Welt gezeigt, durchaus einen Angriffskrieg führen, wenn sie das politisch will10

Auch unter Punkt 3 muß sich die Kirche fragen lassen, ob sie nicht stärker auf Distanz zu einem Staat gehen sollte, der der christlichen Forderung nach Sicherung des Friedens nur noch unter Bedingungen und in eingeschränkter Weise nachzukommen bereit ist.

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4. Weltanschauliche Ausrichtung des Staates

Zum Konsens des Grundgesetzes hatte es gehört, daß der Staat weltanschaulich neutral zu sein habe. Der Staat ist für die äußere Ordnung, für Recht und Frieden verantwortlich. Macht über die Gewissen und den Glauben der Menschen steht ihm nicht zu. Diesen Raum hat der Staat des Grundgesetzes ausdrücklich den Kirchen und den Religionsgemeinschaften überlassen. Daß diese Aufgabenteilung nicht nur mit dem christlichen Denken über den Staat übereinstimmt, ja daß sie geradezu ein Erbe der christlichen Botschaft ist, ist allgemein bekannt: Schon Pilatus („Was ist Wahrheit?“) hat sich als staatlicher Richter in der Wahrheitsfrage für unzuständig erklärt, und die Märtyrer der frühen Christenheit haben in der Ablehnung des Kaiserkultes grundsätzlich den Staat auf seine säkularen Funktionen verwiesen und beschränkt. So hat es auch Luther gesehen: Der Staat regiert im Bereich der äußeren Ordnung. Er tut das notfalls mit dem Schwert. In Sachen des Glaubens jedoch regiert allein das Wort, und niemals hat der Staat des Recht, mit den Mitteln staatlicher Gewalt die Gewissen binden zu wollen.

Diese Aufgabenteilung wird heute von Seiten des Staates in Frage gestellt. Klassisches Beispiel dafür ist das Fach LER in Brandenburg, in dem der Staat sich an die Aufgabe der weltanschaulichen Erziehung der Kinder macht. LER steht faktisch in der Tradition des gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichts in der DDR. Das zeigt, welchen Charakter dieses Unterrichtsfach hat: Es ist Kennzeichen eines beginnenden Totalitarismus, in dem der Staat sich wie seinerzeit das römische Kaiserreich erneut weltanschaulich-religiöse Autorität anmaßt. Die Kirche klagt vor dem Verfassungsgericht gegen diesen neuen Totalitarismus. Es bleibt abzuwarten, wie das Verfahren ausgeht. Fest steht jedenfalls, daß die Kirche gerade auch, was einen neuen Totalitarismus betrifft, wachsam sein muß und ihr enges Verhältnis zum Staat einer kritischen Prüfung unterziehen sollte.

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5. Abbau der Demokratie

Das letzte Beispiel findet möglicherweise weniger Zustimmung als die ersten vier. Dennoch darf es in dieser Aufzählung nicht fehlen. Es geht darum, daß die Demokratie in Europa allmählich erodiert und von demokratisch nicht legitimierten Machtstrukturen überlagert wird. Dies ist eine Folge des europäischen Einigungsprozesses: Es ist ja bekannt, daß die europäischen Gremien den Grundforderungen demokratischer Verfassungen nicht entsprechen. Das gilt nicht nur für den Ministerrat, der Entscheidungen ohne echte parlamentarische Kontrolle trifft, das gilt auch für das Europäische Parlament, in dem die Abgeordneten ja eine ganz unterschiedliche Zahl von Wählern vertreten: Die Stimmen von Wählern aus Luxemburg und Frankreich haben im Europaparlament ungleich mehr Gewicht als die Stimme von Wählern aus Deutschland. Wahlen zum Europaparlament sind keine allgemeinen, gleichenund geheimen, sondern allgemeine, ungleiche und geheime Wahlen.

In der Einschätzung, daß die europäischen Institutionen keineswegs demokratisch sind, sind sich im Grunde alle politischen Beobachter einig. Die beschönigende Sprachregelung, unter der das diskutiert wird, lautet „Demokratiedefizit“. Dabei wird suggeriert, daß irgendwann einmal durch Reformen dieses „Demokratiedefizit“ behoben würde. Das jedoch ist reines Wunschdenken. Alle menschliche Erfahrung spricht dafür, daß diejenigen, die über Entscheidungsrechte ohne demokratische Kontrolle verfügen, alles unternehmen, um diese Rechte zu behalten. Freiwillig werden die Inhaber von unkontrollierten Rechten diese nicht aufgeben. Es ist daher nicht damit zu rechnen, daß das „Demokratiedefizit“ der europäischen Institutionen irgendwann einmal verschwindet, sondern es muß davon ausgegangen werden, daß es sich verfestigt.

Bisher war es so, daß in der EU weitgehend das Einstimmigkeitsprinzip herrschte. Letztlich konnte also nichts rechtsverbindlich beschlossen werden, ohne daß die demokratisch gewählten Regierungen der Mitgliedsländer zugestimmt hatten. So konnte also noch eine gewisse demokratische Legitimation der Beschlüsse behauptet werden. Schließlich konnte man sich formal darauf berufen, daß letztlich Institutionen entschieden hatten, die ohne Frage demokratisch gewählt waren, nämlich die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente. In dem Maße jedoch, in dem jetzt und in Zukunft von diesem Einstimmigkeitsprinzip abgegangen und zum Mehrheitsprinzip übergegangen wird, werden die demokratisch legitimierten Regierungen und Parlamente der Mitgliedsländer entmachtet. Die Macht der demokratisch nur höchst unzureichend kontrollierten europäischen Institutionen wird sie überlagern und ihre Beschlüsse aushebeln können. Auf diese Weise wird die politische Gewalt in Europa Schritt für Schritt von den demokratischen nationalen Regierungen und Parlamenten der einzelnen Staaten zu den nicht-demokratischen Institutionen Europas übergehen. Die Demokratie wird so allmählich zu einen Auslaufmodell. Die Demokratie als Raum der politischen Verantwortung aller Bürger, die die EKD in ihrer Denkschrift von 1985 beschworen hatte, wird durch Europa eingeschränkt und entwertet.

Auch diese unter Punkt 5 beschriebene allmähliche Entdemokratisierung des Staates zwingt die Kirche zu der Frage, ob sie weiter wie bisher am harmonischen Verhältnis von Staat und Kirche festhalten, oder ob sie nicht doch einen Schritt auf Distanz gehen sollte.

Als Ergebnis von Kapitel II bleibt festzuhalten, daß es eine ganze Reihe von Bruchstellen gibt, an denen der Weg des Staates und das, was vom Evangelium her zu fordern ist, auseinanderklaffen. Im einzelnen mögen die Bruchstellen als geringfügig und tolerabel erscheinen, aufs Ganze gesehen fügen sie sich zu einem immer klarer werdenden Bild: Staat und Kirche driften auseinander. Es könnte schon sehr bald der Zeitpunkt kommen, an dem man sich wieder entscheiden muß: entweder „Gnade vor der Welt und Ungnade vor Gott“ oder „Friede mit der Welt und Streit mit Gott“.

Viele in der Kirche, gerade in den leitenden Ämtern, werden diese Analyse so nicht mitmachen wollen. Meist hat das allerdings biographische Gründe: Die Persönlichkeiten, die heute die Kirche leiten, stammen ja rein biographisch aus derselben Studentenbewegung der Achtundsechziger wie diejenigen, die heute als Minister, Kanzler und Staatssekretäre staatliche Gesetze machen. Manche kennen sich noch persönlich aus gemeinsamen Demonstrationen gegen Atomkraftwerke und NATO-Raketen. Es ist menschlich nur allzu leicht verständlich, daß die kirchenleitenden Persönlichkeiten, die aus dieser gemeinsamen Tradition kommen, es einfach nicht sehen können oder nicht sehen wollen, daß diejenigen, mit denen sie damals gemeinsam demonstriert haben, jetzt eben nicht der neuen, gewandelten und sozialistisch aufgeschlossenen Kirche die alten Rechte des Staatskirchentums weitergewähren, sondern daß sie trotz der gemeinsamen Überzeugungen der Kirche grundsätzlich kritisch gegenüberstehen, ihre Privilegien beschneiden und ihren Einfluß zurückdrängen.

Manche der Oberkirchenräte und Bischöfe reiben sich verwundert die Augen und denken, das könne doch gar nicht so sein: Kann wirklich unser Freund und Kirchenmann Stolpe gegen die Kirche agieren wollen, wenn er LER in den Schulen Brandenburgs einführt und den Religionsunterricht zur Privatsache macht? Weiß er, was er tut? - Kann es wirklich unser Synodaler und Bruder, der damalige Ministerpräsident Rau sein, dessen Kabinett auf dem Verordnungswege die kirchlichen Kindergärten gegenüber denen der Arbeiterwohlfahrt massiv finanziell benachteiligt, so daß die kirchlichen Kindergärten regelrecht verdrängt werden?

Es ist in der Tat eine Ironie der Geschichte: Die Theologengeneration der Achtundsechziger, die ja eigentlich von ihrer theologischen Herkunft her (Karl Barth!) eine Trennung von Kirche und Staat hätte fordern müssen, hat allen Ernstes, als sie selbst zu Amt und Würden gekommen war, stillschweigend darauf gehofft, daß ihre einstigen sozialistischen Weggefährten, die nun ihrerseits hohe und höchste staatliche Ämter bekleiden, unter neuem, fortschrittlich-ökologischem und sozialistischem Vorzeichen eine neue Ehe von Thron und Altar gewähren würden.

Andere Persönlichkeiten in kirchenleitenden Ämtern sehen durchaus, was im Gange ist, stemmen sich aber der Entwicklung entgegen. Sie wollen das Auseinanderdriften von Staat und Kirche mit allen Kräften verhindern und gehen deshalb bis an den Rand der Selbstaufgabe den Weg der theologischen Anpassung an die im Staat herrschenden Lehren. Gewiß ist ist der rheinische Weg zur Homosegnung unter anderem ein solcher, letzter und verzweifelter Versuch, die Gemeinsamkeit zu retten und den Anschluß an die staatliche Entwicklung nicht zu verpassen.

Es wird alles nichts helfen. Die Bruchstellen sind da und werden sich nicht auf Dauer ignorieren oder zukleistern lassen. Staat und Kirche driften auseinander. Die Kirche sollte nicht leichtfertig über diese Dinge hinweggehen und den Kopf in den Sand stecken. Um der Klarheit ihres Wortes willen ist sie gefordert, auf die neuen Herausforderungen neue Antworten zu suchen. Und wenn die Kirche das nicht wahrhaben will, der Staat wird schon dafür sorgen, daß die Dinge klar werden. Und vermutlich wird er das Tempo noch verschärfen. In absehbarer Zeit jedenfalls wird er auch unter sozialistischem Vorzeichen kein neues Bündnis von Thron und Altar eingehen. Die Kirche sollte in Würde und Freiheit in die neue Situation hineingehen, bevor ihr der Staat höflich, aber bestimmt den Stuhl vor die Tür setzt.

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III Unterwegs als Fremdlinge

Die Situation hat sich geändert. Wir Christen müssen uns auf die veränderte Situation einstellen und von Grund auf neue Wege gehen. Die Minderheitensituation müssen wir erkennen und annehmen. Und wir müssen angemessen darauf reagieren. Selbstverständlich wäre an dieser Stelle vieles zu nennen, was notwendig ist. Ich beschränke mich auf die folgenden Punkte:

1. Das Wichtigste zuerst: Der Wandel beginnt im Kopf!

Im Grunde ist die Situation, die vor uns Christen liegt, nichts Neues. Die Christen der ersten Jahrhunderte haben nichts anderes erlebt. Sie haben in einem ganz und gar nicht christlichen Staat leben müssen. Gladiatorenkämpfe hat es in diesem Staat gegeben und ein ausgedehntes Sklavenhaltungssystem. In der Politik ging es alles andere als demokratisch zu und im täglichen Leben regierten Lug und Betrug.

Zur Illustration dessen, wie die Christen damals ihre Umwelt gesehen und erlebt haben, zitiere ich auszugsweise aus der Schrift des Cyprian von Karthago "An Donatus"11:"Stelle dir vor, du seiest für kurze Zeit auf den hochragenden Gipfel eines steilen Berges entrückt! Betrachte dir von hier aus das Bild der Dinge unter dir, laß deine Augen nach allen Seiten schweifen und sieh dir, selbst von jeder irdischen Berührung frei, die Wirbel an, in denen sich die hin- und herwogende Welt bewegt! ... Sieh nur, wie die Straßen von Wegelagerern versperrt, wie die Meere von Seeräubern besetzt und wie Kriege mit dem blutigen Greuel des Lagerlebens über alle Länder verbreitet sind! Es trieft die ganze Erde von gegenseitigem Blutvergießen. ... Wendest du nun mehr deine Augen und dein Gesicht den Städten zu, so wirst du da ein Gewühl finden, noch betrübender als alle Einsamkeit. Da rüstet man zu einem Fechterspiele, damit Blut die Gier grausamer Augen letze. ... Der eine Mensch wird hingemordet zum Vergnügen des anderen, und daß einer zu morden versteht, das heißt Geschicklichkeit ... Wende von hier deine Blicke auf den nicht minder verwerflichen Einfluß eines anderen Schauspiels! Auch in den Theatern wirst du nur zu sehen bekommen, was dir Schmerz und Scham erregt. Tragische Dichtkunst heißt man es, wenn man Missetaten aus alten Zeiten in Versen wiedergibt. Der alte Greuel von Vatermord und Blutschande wird in wahrheitsgetreuer Darstellung von neuem vorgeführt. ... Da macht es Vergnügen, in den mimischen Spielen, der Schule aller Schändlichkeiten, wiederzuerkennen, was man daheim schon getrieben hat, oder zu hören, was man noch treiben könnte. Den Ehebruch lernt man, indem man ihn sieht, und wie ja ein Übel, das in allgemeinem Ansehen steht, zu Lastern verführt, so kehrt dieselbe Frau, die vielleicht als keusche Matrone zum Schauspiel gegangen ist, unkeusch aus ihm zurück. ... O könntest du erst, auf jener hohen Warte stehend, mit deinen Augen ins Verborgene dringen, könntest du noch die verschlossenen Türen der Schlafgemächer aufschließen und die geheimen Räume im Inneren dem forschenden Blick der Augen eröffnet! ... Dinge würdest du sehen, deren Anblick schon ein Verbrechen ist, Dinge, deren Verübung die von der Raserei des Lasters Betörten ableugnen, um sie doch eiligst wieder zu verüben. In toller Lust stürzen sich Männer auf Männer ... nach all dem könntest du dir vielleicht einbilden, das Forum wenigstens sei makellos und bleibe frei von verletzender Ungerechtigkeit ... Aber richte nur dorthin deinen Blick! Nur noch mehr wirst du dort finden, was deinen Abscheu erregt ... inmitten der Gesetze selbst frevelt, inmitten der Rechte sündigt man, und die Unschuld wird nicht einmal dort bewahrt, wo man sie verteidigt. Rasend tobt die Wut der einander befehdenden Parteien ... und das Forum hallt wieder von dem Brüllen wahnwitziger Prozesse. ... Wer aber soll Hilfe bringen? Der Anwalt? Aber der treibt ja nur ein unredliches und trügerisches Spiel. Oder der Richter? Aber der verkauft ja seine Stimme. Er, der zu Gericht sitzt, um die Freveltaten zu bestrafen, frevelt ja selbst ... Das Recht hat mit dem Verbrechen einen Bund geschlossen, und allmählich gilt das als erlaubt, was allgemein geschieht."12

Cyprian von Karthago, einst selbst ein erfolgreicher und keineswegs tugendhafter Rhetor, dem es mehr um die Verdrehung des Rechts und um den Profit gegangen ist als um die Gerechtigkeit, hat diese Schrift etwa um 246 n.Chr., kurz nach seiner Bekehrung und Taufe, in Karthago verfaßt. Er hat darin das durch und durch unchristliche Leben der Menschen im römischen Reich mit moralischem Abscheu geschildert und gegeißelt. Vieles von dem, was er damals gesehen und geschildert hat, läßt sich auch im Blick auf die heutige Zeit sagen. Der Unterschied allerdings ist, daß die Christen damals überhaupt keine Zweifel daran hatten, daß sie nur im Konflikt und Widerspruch mit dieser Welt ihr Christsein leben konnten, während heute noch viele Christen meinen, man könne Frieden mit Gott haben und gleichzeitig Frieden mit der Welt. So etwas gibt es heute nicht mehr. Im Grunde hat es das nie gegeben! Die Christen der ersten Jahrhunderte hat bei allen theologischen Unterschieden, die sie hatten, doch eines verbunden: das Gefühl der Fremdheit in der Welt. Sie waren sich dessen bewußt, daß die Welt anderes will als Gott, und sie sind überhaupt nicht überrascht gewesen, wenn sie auf Grund ihres Christseins in der Welt Feindschaft, Unverständnis und Verleumdung erleben mußten. Aber das hat sie nicht gekümmert! Sie wußten um die Wahrheit und brauchten sich deshalb um die Zustimmung in der Welt keine Sorge zu machen.

Zu dieser inneren Haltung müssen wir Christen heute zurückfinden. Der Anfang muß in unserem Kopf geschehen! Wir Christen sind Fremde in der Welt. Wir haben als Kinder Gottes andere Aufgaben und sind anderen Zielen verpflichtet als die Kinder der Welt. Daß die Mehrheit anders denkt als wir, daß Politik und Gesetzgebung allem anderen als christlichen Werten verpflichtet sind, daß der Staat die Kirchen Schritt für Schritt zu marginalisieren versucht, brauchen wir nicht mit Erschrecken, sondern sollen wir mit Festigkeit zur Kenntnis nehmen. Nichts anderes können wir erwarten. Es wäre vollkommen aussichtslos und darüber hinaus zutiefst würdelos, wollten wir um des Ansehens in der Welt, um des Erfolgs bei den Massen und um der Rettung der letzten staatskirchlichen Privilegien willen einen Weg der Anpassung an die Welt versuchen. "Die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit."13

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2. Neue Freiheit

Wenn der Wandel im Kopf vollzogen ist und wir Christen unsere Fremdheit in der Welt nicht nur erkannt, sondern auch theologisch begrüßt und akzeptiert haben, dann erfolgt der zweite Schritt automatisch: Wir erkennen, daß die Einsicht in die Fremdheit Freiheit schenkt. Es besteht nicht mehr der Zwang, um der Harmonie mit Staat und Gesellschaft willen falsche Kompromisse zu schließen. Wir sind frei, wirklich nur dem zu folgen, was uns von unserem Herrn aufgetragen ist. Rücksichtnahmen auf Mehrheitsmeinungen, die uns vorher nur gelähmt haben, diplomatisches Verhandeln mit staatlichen Stellen, das uns nur eingeengt hat, sind nicht länger notwendig. In aller Nüchternheit müssen wir erkennen: Der Staat hat einen anderen Auftrag als die Kirche, und die im Staat Herrschenden wollen meist etwas anderes als wir Christen. Wir sind frei, endlich frei von den Fesseln des Bündnisses von Thron und Altar.

Die neue Freiheit wird sich zuerst in der Verkündigung auswirken müssen und können. Wenn die Kirche die falschen diplomatischen Rücksichtnahmen über Bord geworfen hat, wird sie klarer und eindeutiger als in der Vergangenheit die Dinge beim Namen nennen können. Sie wird wieder lernen, Böses als böse und Sünde als Sünde zu ächten, auch wenn der jeweilige Bundeskanzler, der Ministerpräsident und Staatssekretär, auch wenn die Moderatoren in den Talkshows des Fernsehens und die Meinungspäpste in den Leitartikelspalten der großen Tageszeitungen es zu rechtfertigen versuchen. Auch kirchenleitende Persönlichkeiten werden die Freiheit haben, einen Angriffskrieg einen Angriffskrieg zu nennen. Die Kirche wird es wieder wagen, die Abtreibung eines ungeborenen Kindes als ein abscheuliches Verbrechen zu bezeichnen. Die ausufernde Pornographie in Kunst, Medien und Literatur wird sie öffentlich als einen Angriff auf die Menschenwürde zu verdammen wagen und als zynische Vergiftung der Seelen unserer Kinder und Jugendlichen verurteilen. Aktive Sterbehilfe wird sie nicht nur in akademischen Stellungnahmen ablehnen, sondern sie wird sie ein Verbrechen nennen und das Herumexperimentieren mit menschlichen Embryonen und embryonalen Stammzellen als verwerfliche Instrumentalisierung und Tötung menschlichen Lebens. Und in dieser neuen Freiheit wird die Kirche neue Glaubwürdigkeit gewinnen, eine Glaubwürdigkeit, die durch allzu viele Kompromisse mit Staat und Gesellschaft weithin verloren gegangen ist.

Ganz gewiß wird diese neue Freiheit zunächst nur an der Basis der Kirche, in den Gemeinden und den kleinen Gruppen der Christen erfahren werden können. Die kirchenleitenden Persönlichkeiten werden, weil sie unmittelbar mit den Spitzen des Staates im Geschäft sind, noch für einen längeren Zeitraum gebunden sein und die Freiheit nur sehr eingeschränkt leben können.14 Uns an der Basis der Kirche, die wir kaum Einfluß in kirchenleitenden Gremien haben, sollte diese Erkenntnis Zurückhaltung auferlegen, was allzu scharfe Kritik an den Brüdern und Schwestern im kirchenleitenden Amt betrifft: Viele von ihnen meinen, sie könnten die Bruchstellen noch verkleistern und das Bündnis mit der Welt noch ein letztes Mal retten. Deshalb sind sie nicht so frei, wie sie gerne wären. Statt sie persönlich anzugreifen, sollten wir ihnen die neue Freiheit vorleben. Die Zeit ist nicht mehr fern, in der auch die Kirchenleitungen und Bischöfe das Auslaufen des Bündnisses von Thron und Altar als Befreiung erleben und entsprechend handeln und reden werden. Die gegenwärtig noch in den Führungsetagen unserer Kirche zu beobachtende Politik der Anpassung und der taktierenden Kompromisse ist durch die Entwicklung im Grunde längst überholt.

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3. Auf eigenen Füßen stehen

In vielen Großstädten wird heute darüber nachgedacht, wie die Kirche angesichts des rapiden Verfalls der kirchlichen Finanzen ihre großen alten Kirchen erhalten soll. Manche Kirchen werden aufgegeben und in Museen oder Konzertsäle verwandelt. Manche können nur noch notdürftig erhalten werden, wobei der Zeitpunkt absehbar ist, an dem sie wegen Baufälligkeit geschlossen werden müssen. Diese Entwicklung ist ein Symbol für das Ganze: In Zeiten des Staatskirchentums, als die Kirche überreich mit Finanzmitteln ausgestattet war, als es auch noch in weiten Kreisen des Bürgertums zum guten Ton gehörte, wenigstens ab und zu sonntags den Gottesdienst zu besuchen, war der Anzug, den sich die Kirche hat schneidern lassen, angemessen und selbstverständlich auch finanzierbar. Das ist anders geworden. Der Anzug ist zu groß. Er kann nicht mehr bezahlt, er kann nur noch notdürftig geflickt und ein drittes und viertes Mal gewendet werden. Er kann auch nicht mehr in ausreichendem Maße mit kirchlichem Leben gefüllt werden. Das gilt nicht nur für die Kirchengebäude, sondern auch für eine Vielfalt von großdimensionalen kirchlichen Sozialeinrichtungen.

Die Kirche wird lernen müssen, auf eigenen Füßen zu stehen. Dazu ist es erforderlich, daß sie sich zunächst einen kleineren Anzug zulegt. Nur noch das sollte sie aufgreifen, nur noch solche Gebäude errichten, nur noch solche Sozialeinrichtungen beginnen, die sie auf Dauer aus eigener Kraft erhalten kann. Alles andere würde in den Ruin führen. Dazu kann auch gehören, daß die Kirche, wie es ihr z.B. die staatlichen Verwaltungen, aber auch die kommerziellen Banken und Warenhäuser längst vorgemacht haben, hier und dort einen Rückzug aus der Fläche betreibt. Davor sollten wir keine Angst haben. Gegen Null wird der Anzug der Kirche nicht tendieren. Er wird kleiner werden, aber vielleicht wird er statt dessen einen besseren Zuschnitt haben und so gut aussehen wie ein Maßanzug.

Auch wenn sich diese Entwicklung abzeichnet, sollte die Kirche nicht mutwillig und in vorauseilendem Gehorsam freiwillig auf Rechte verzichten, die ihr zustehen. Von sich aus sollte sie die Kirchensteuer nicht zur Disposition stellen, sie sollte sich aber darauf einstellen, daß sie eines Tages fällt oder durch weitere Steuerreformen immer mehr an Ertragskraft verliert. Von sich aus sollte die Kirche den Religionsunterricht in den Schulen nicht aufgeben. Im Gegenteil, es ist vollkommen richtig, daß sie vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Land Brandenburg klagt. Hoffentlich bleibt sie standfest und läßt sich vom Verfassungsgericht, das offensichtlich unwillig ist, seine Pflicht zu tun und Recht zu sprechen, nicht zu einem faulen Kompromiß verleiten. Nüchtern die eigene Fremdheit in der Welt zu erkennen und ebenso nüchtern und zur Not kämpferisch die eigenen Rechte gegenüber dem Staat zu verteidigen, ist kein Widerspruch. Das eine ist die Voraussetzung des anderen: Nur wer sich frei gemacht hat von diplomatischer Rücksichtnahme auf Mehrheiten und politische Autoritäten, kann zäh und beharrlich die eigenen Rechte verteidigen. Denn er weiß, daß er ein höheres, ein besseres Recht vertritt als der weithin unchristliche und ins Heidentum zurückfallende Staat.

4. Neue Stärke

Wenn die Kirche diesen Weg gegangen ist, dann wird sie neue Stärke gewinnen. Solange sie versucht, die alte Ehe von Thron und Altar zu retten, bleibt sie in der Defensive. Sie verliert die Initiative des Handelns und schwächt ihre Position. Erst wenn sie auf eigenen Füßen steht und frei und ungebunden das Wort sagt, das zu sagen ihr aufgetragen ist, gewinnt sie die Offensive zurück. Dann kann sie das Gesetz des Handelns an sich reißen, kann selbst die Themen bestimmen, statt immer nur auf die Themen zu reagieren, die Staat und Gesellschaft vorgeben. Dann wird sie auch neuen Zuspruch bei den Menschen finden und den Abwärtstrend umkehren.

Martin Luther hat in seiner frühen Galaterbriefvorlesung dargelegt, daß man nicht beides haben kann, Frieden mit Gott und Frieden mit der Welt. In Deutschland haben die reformatorischen Kirchen vor dieser Erkenntnis jahrhundertelang die Augen verschlossen. Heute und in naher Zukunft werden sie von der Entwicklung in Staat und Gesellschaft dazu gezwungen werden, ihre Augen zu öffnen. Angst brauchen sie davor nicht zu haben. Die Erkenntnis der Wahrheit wird ihnen neue Freiheit und neue Stärke schenken.

Wir Christen sind Fremdlinge in der Welt, auserwählte Fremdlinge, wie Petrus schreibt. Wir wohnen verstreut in "Pontus, Galatien, Kappadozien, der Provinz Asien und Bithynien"15 - in Deutschland und Indonesien, Frankreich und Brasilien, Kenia und den USA -. Sei's drum!

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11. Petr. 1,1
2WA 57,55, zitiert nach: „Luthers Werke“, hg. v. Otto Clemen, Bd. V, Berlin 1963, S. 328
3ibd.
4„Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie – Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“, Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 1. Oktober 1985, Gütersloh 1985, S. 15
5a.a.O., S. 16
6ibd.
7Siehe: NATO Press Kommuniqué vom 24. April 1999, Artikel 31, Quelle: http://www.schmaehling.de/nato.neues.strategisches.konzept.24.04.99.htm
8a.a.O., Artikel 24
9ibd.
10Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, in aller Ausführlichkeit auf die Problematik des Bombenkriegs der NATO gegen Jugoslawien einzugehen. Hier nur ein paar Hinweise: Das „Massaker“ von Racak, das ja der in der Öffentlichkeit genannte Grund für die Erpressungsverhandlungen von Rambouillet („Entweder ihr laßt fremde Besatzungstruppen in euer Land, oder wir bombardieren euch in Grund und Boden.“) war, ist inzwischen allgemein als Fälschung anerkannt. Weiter: Der „Hufeisenplan“, der nach dem Beginn der NATO-Bombardierungen als nachträgliche Rechtfertigung des Krieges der Öffentlichkeit präsentiert worden ist, ist ebenfalls mit größter Wahrscheinlichkeit eine Fälschung. Seine Überschrift war im kroatischen Serbokroatisch verfaßt. Sollten die Serben ihre Pläne nicht in serbischer Sprache formulieren? Schließlich, was die Verteidigung der Menschenrechte betrifft: Die UCK, mit denen die NATO eine offene Waffenbrüderschaft eingegangen ist – sie hat für die UCK die Luftangriffe auf die serbischen Stellungen geführt, mit denen sich die UCK Artillerieduelle lieferte – hat nach dem Einmarsch der NATO ins Kosovo unter der militärischen Schirmherrschaft der NATO bis auf ein paar Enklaven praktisch alle Serben aus dem Kosovo vertrieben und verweigert ihre Rückkehr bis auf den heutigen Tag. Was sind das für Menschenrechte?
11Bibliothek der Kirchenväter, Cyprian I, übersetzt von Julius Baer, Kempten&München 1918, S. 38ff
12a.a.O., S. 45-50 i.A.
131. Joh. 2,17
14 Nur vor diesem Hintergrund ist es ja z.B. zu erklären, daß Präses Kock zu Beginn des NATO-Bombenkriegs gegen Jugoslawien davon gesprochen hat, daß das Ganze als „unvermeidlich“ empfunden werde. Hätte ein Ratsvorsitzender der EKD etwas anderes sagen können, ohne die Bruchstellen zwischen Staat und Kirche weiter zu vertiefen? Die Zeit, in der es als sinnvoll empfunden werden konnte, solche Rücksicht zu nehmen, läuft aus. Auch ein EKD-Ratsvorsitzender wird bald so frei sein wie die Christen an der kirchlichen Basis und davon auch Gebrauch machen.
151. Petr. 1,1