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Der langjährige frühere Vorsitzende und jetzige Ehrenvorsitzende unseres Konvents, Sup.em. Ernst Volk hat einen Aufsatz über wahre und falsche Katholizität geschrieben. In gekürzter Fassung ist dieser Aufsatz in der Zeitschrift CA I/2003 erschienen. Wir geben den vollständigen Text wieder.


    Wahre und falsche Katholizität

    von Ernst Volk

    I

    Seit mehr als einem Jahrzehnt kann man beobachten, dass das Reformationsfest am 31. Oktober – dem Thesenanschlag Luthers – mit sog. „ökumenischen Gottesdiensten“ begangen wird. In der Regel wird ein römisch-katholischer Priester als Prediger berufen, um die ökumenische Verbundenheit zu unterstreichen. Im Jahre 2002 wurde mancherorts der 31. Oktober sogar mit einem Festgottesdienst zum 30. Jahrestag der Eröffnung des 2. Vatikanischen Konzils gefeiert. Erstaunt reibt man sich die Augen und fragt sich, ob denn viele evangelische Pfarrer, ob denn etwa die evangelische Kirche selbst zur Reformation nichts Eigenständiges mehr zu sagen hat. Übernimmt man mit derartigen Feiern nicht ungewollt und unbewusst die stillschweigend vorausgesetzte These, dass Luther mit seiner Reformation die Einheit der Kirche zerstört habe und die evangelische Kirche gut daran täte, den Skandal der Kirchentrennung zu überwinden? Dabei muss man sich dessen bewusst sein, dass eine erdrückende Mehrheit der Bevölkerung diese ökumenischen Gottesdienste und Annäherungen begrüßt. Auf diese Weise würden doch – so argumentiert man – die alten, oft hasserfüllten Streitigkeiten in Ehen und Familien, in Dörfern und Städten, ja in Europa und draußen in der weiten Welt endlich begraben und vergessen. Dieser „ökumenische“ Friedensschluss – so folgert man weiter – sei zugleich auch ein Schritt hin zur Demokratisierung, hin zum Weltfrieden, der in einer „Ökumene der Weltreligionen“ und in einem interreligiösen „Weltfrieden-Ethos“ einmünden müsse. Alle Weltprobleme ließen sich so in einem umfassenden Dialog lösen. Dahinter verbirgt sich die Sehnsucht nach dem „ewigen Frieden“. In diesem Sinne wäre also die „ökumenische Bewegung“ im weitesten Sinne „katholisch“, gemäß dem ursprünglichen Sinn „kat’ holän (gän)“, die „ganze Erde“, den ganzen Weltkreis (= Ökumene) umfassend; entsprechend heißt „katholikos“ so viel wie „allgemein“ oder „alles umfassend“. Damit schienen jene o. g. „ökumenischen Gottesdienste“ „ein Schritt in die richtige Richtung“ zu sein (wie heute Politiker das gerne auszudrücken belieben).

    Trifft dies zu, dann kann man in der Tat den traditionellen Sinn des Reformationsfestes preisgeben, jene „unglückliche“ Reformation zu überwinden zu versuchen, damit die Welt endlich aus ihrer tödlichen Zerrissenheit herausfinde.

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    II

    Andererseits jedoch verraten jene „ökumenisch“ gesinnten Gottesdienste nur, dass man auf evangelischer Seite weithin vergessen zu haben scheint, dass sich die evangelische Kirche mit den beiden altkirchlichen Glaubensbekenntnissen, dem apostolischen und dem nicaenischen Bekenntnis, zur „einen, heiligen, katholischen (= allgemeinen) und aposto­lischen Kirche bekennt“.

    Das „Katholische“ wurde einst noch nicht im engeren konfessionellen Sinn missverstanden. Diese konfessionelle Verengung setzte sich erst später durch. Die großen Lehrer der evangelischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert nahmen für die reformatorische Bewegung wie selbstverständlich in Anspruch, wahrhaft „katholisch“ zu sein, dass evangelische Verkündigung „allumfassend“ ist, da das Evangelium alle Menschen des ganzen Erdkreises zum Glauben ruft. Mit Recht hat deshalb Martin Luther das Fremdwort „katholisch“ sinn­gemäß mit der „einigen, heiligen, christlichen, apostolischen Kirche“ wiedergegeben, die ganze Christenheit umfassend.

    Im Jahrhundert der Reformation wurde also nicht um die Katholizität der Kirche gestritten. Katholisch wollten beide sein: die Päpstlichen und die Lutherischen! Der Streit entbrannte vielmehr an der Frage, was rechte Katholizität sei.

    Das ist freilich alles andere als eine müßige Frage, wie der heutige weithin säkularisierte Zeitgenosse wähnt, dem die Wirklichkeit der Gnade verloren gegangen ist, weil ihm ein vertieftes Sündenbewusstsein fehlt. Weithin huldigt man seit Jean Jacques Rousseau der Illusion – trotz der Guillotine, trotz Lenin, Stalin und Hitler und den furchtbaren Greueln dieser Revolutionäre -, dass der Mensch auf dem Grunde seines Wesens gut sei. Dieser Optimismus verstellt den Zeitgenossen den Blick in die Abgründigkeit des Menschen­herzens. Wie sollte er noch verstehen, dass er dem Gericht Gottes verfallen ist, dass er der Vergebung Gottes allein bedarf. Allein auf Gnade will keiner zurückgeworfen sein.

    Genau dies aber sind die zentralen Fragen, um die im Reformationsjahrhundert gestritten wurde. Dieselben Probleme stehen auch heute verschärft zur Debatte, wenn es auch der Zeitgenosse nicht wahrhaben will. An ihnen entscheidet sich nicht nur das Schicksal einer evangelischen Kirche, sondern auch das Geschick eines einstmals – trotz aller konfes­sionellen Spannungen – christlichen Europa. Die angeblichen Streitfragen sind – allen ökumenischen Aufbrüchen zum Trotz – keineswegs gelöst; sie sind so zukunftsträchtig wie eh und je.

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    III

    Während im Neuen Testament die Kirche in der Regel als „Gemeinde“ (ecclesia) Gottes oder als „Berufene Jesu Christi“ oder auch als „Leib Christi“ bezeichnet wird, taucht der Ausdruck „katholische Kirche“ erst um 110 nach Christus in den so genannten Ignatius-Briefen auf. Der zur Hinrichtung nach Rom gebrachte Märtyrer-Bischof Ignatius von Antiochien ermahnt in einem seiner Abschiedsbriefe die Christengemeinde von Smyrna, ihrem Bischoff zu folgen wie Jesus Christus, denn „wo Christus Jesus ist, dort ist auch die katholische Kirche“ (Ignatius: ad Smyrn. 8, 2). Der entscheidende Angelpunkt ist also Christus selbst! Dem Bischof soll man folgen, weil dieser als berufener Leiter der Gemeinde Christus selbst reprä­sentiert. Nicht die Kirche also garantiert die Gegenwart Christi in Welt und Geschichte. Vielmehr bewirkt der in dieser Weltzeit durch sein Wort und Sakrament anwesende Christus auch die Sammlung der Gemeinde Jesu Christi. Um sein verkündigtes Wort kristallisiert sich auch die „katholische“ Kirche. Damit ist bereits die entscheidende Weichenstellung erfolgt. Nicht die Kirche ist Herrin des Wortes, über das sie selbst verfügen könnte, sondern die Kirche ist das Geschöpf des Christuswortes. Diese Reihenfolge ist unumkehrbar! Das Christuswort ist und bleibt das Primäre. Die rechte „katholische“ Kirche kann nur Antwort und Echo des Wortes sein, demütige und gehorsame Dienerin der Christusbotschaft. Deshalb ist es ihr – ebenso wie dem alttestamentlichen Gottesvolk – verwehrt, die vorgegebene Botschaft zu verändern, „daß ihr nicht davon weichet, weder zur Rechten noch zur Linken“ (Jos. 23, 6).

    Die rechte allgemeine christliche Kirche (= katholische) steht und fällt also mit dem Wort von Kreuz und Auferstehung Christi, jener fundamentalen Botschaft, die uns in den Schriften der Propheten und Apostel überliefert und dargeboten wird. Deshalb kann der ursprüngliche und unverfälschte Inhalt des Evangeliums nur in der Heiligen Schrift gefunden und aus der Schrift erhoben werden. Das eigentliche Zentrum der Schrift, um das sich alle alt- und neutestamentlichen Traditionen gruppieren, ist jenes zentrale Ereignis, dass Christus, der Sohn Gottes „um unserer Sünde willen dahingegeben ist und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt wurde“ (Rö. 4, 25).

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    IV

    An drei Beispielen der Schrift soll dieser Sachverhalt erhoben werden.
    1. Der Evangelist Lukas berichtet, dass Christus zwischen zwei Übeltätern hängend hinge­richtet wurde. Der Unschuldige wird den Schuldbeladenen zugerechnet und wird mit ihnen im Tode abgetan. Die Strafe der beiden Verbrecher muss auch der Christus Gottes erleiden. Es erfüllt sich die Prophetie: „Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn.“ (Jes. 53, 6).

      Zwischen den drei Gekreuzigten entspinnt sich ein erschütterndes Gespräch. Während der eine der Übeltäter in seiner Verzweiflung den Gekreuzigten in der Mitte verhöhnt: „Bist du der Christus, so hilf dir selbst und uns.“ Er erwartet nichts von seinem Mitgekreuzigten und spottet seines Christusnamens. Doch der zweite Mitgekreuzigte „strafte ihn“, er wies ihn zurecht: „Und du fürchtest dich nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind zwar billig darin, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes getan.“

      Der Gang in den Tod ist für jeden Menschen ein Hingang zu Gott und seinem Gericht und unausweichlich. Diese Gewissheit kann ich verzweifelt verdrängen und stürze gerade so in das letzte Verhängnis! – Oder ich erkenne die Rechtmäßigkeit meines Todesgeschickes an, weil unser ganzes Dasein Gott verfehlt hat und meine Schuld mich anklagt! Der andere Verurteilte wendet sich deshalb in seiner Verzweiflung und mit verfehltem Leben an den Mann in der Mitte: „Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ Denn „Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen“ (5. Mose 33, 27). Hilfe suchend greift der zweite Verurteilte wie ein Ertrinkender nach seinem Retter. Von dem gekreuzigten Gott erfährt er die von Tod und Gericht befreiende Zusage: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ (Luk 23, 39-43). Dieses Wort allein reißt den Schuldigen aus seinem Verhängnis heraus. Ausschließlich diese Zusage öffnet den durch Sünde und Schuld verrammelten Weg ins ewige Leben. Genau diesen Vorgang nennt später der Heidenapostel Paulus „die Gerechtigkeit Gottes, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus“ (Rö. 3, 23).

      Es ist nicht die Reue, die den Verurteilten vor Gott gerecht macht; denn auch der andere Verbrecher hat bitter bereut. Aber es ist eine „Galgenreue“, die ihn an sich und seine Schuld für immer fesselt. Der zweite dieser sog. „Schächer“ dagegen umfasst mit seinem Schrei „Gedenke an mich“ niemand anderen als den Gott, der neben ihm, mit ihm und für ihn leidet.

      „Die Strafe liegt auf Ihm, auf daß wir Frieden hätten“, so heißt es in der prophetischen Ankündigung des Geschehens auf dem Hügel Golgatha draußen vor den Mauern Jerusalems (Jes. 53, 5).

      Es sind auch nicht irgendwelche Glaubensverdienste, die diesem Schächer angerechnet werden könnten. Solche guten, von der Liebe geformten Werke konnte dieser Mensch nicht mehr vollbringen. Er bleibt allein auf das erbarmende Wort Christi zurückgeworfen! Nichts anderes rechtfertigt ihn in diesem letzten und ewigen Gericht. Er klammert sich allein an den mitgekreuzigten Christus; an nichts sonst! Der, der allein rettet ihn und reißt ihn kraft seiner göttlichen Gerechtigkeit heraus aus Gericht und Verdammnis. Das wird uns in der Christus­botschaft verkündigt und zugesagt. Wir können diese Zusage nur hören und ihr vertrauen. Im Vertrauen auf diese Zusage wird Christus mir mein Retter und mein Erlöser; wird ER meine Gerechtigkeit, die allein vor Gott gilt.
    2. Christus selbst verdeutlicht diesen entscheidenden Sachverhalt im Gleichnis vom Zöllner und Pharisäer (Luk. 18, 9-14). Beide Männer beten im Tempel. Beide stehen also vor Gott. Der Pharisäer beruft sich vor Gott auf seine guten und frommen Taten. Er achtet im Unter­schied zu „den anderen Leuten“ auf die Erfüllung der Gebote; er fastet und gibt den Zehnten. Er heuchelt nicht. Vielmehr kann er auf ein „frommes Leben“ verweisen; er müht sich redlich um ein „anständiges Leben“. Sein Leben gründet sich auf seine von ihm erkämpfte Recht­schaffenheit, die er Gott vorweist. Der Zöllner dagegen kann weder auf ein bürgerlich anständiges Leben verweisen, auch nicht auf seine fromme Gesinnung. Er wollte „seine Augen nicht aufheben gen Himmel“. Da ist nichts, dessen er sich rühmen könnte. So kann er nur noch seufzen: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Er kann sich mit seinem verfehlten Leben nur dem Erbarmen Gottes anvertrauen! Ausdrücklich sagt Jesus: „Dieser (Sünder) ging hinab gerechtfertigt in sein Haus ...“ Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, wird nicht in uns selbst, nicht in unseren Taten, schon gar nicht in unserer „Selbstfindung“ gefunden. Sie wird uns als Gottes Erbarmen, als Gnade geschenkt, ein Geschenk, das ich nur vertrauend an- und hinnehmen kann. Auch hier sind alle Verdienste – auch alle frommen Verdienste – ausgeschlossen.
    3. Dasselbe widerfährt auch einem Simon Petrus auf seinem Fischzug (Luk. 5, 1-11). Die Nähe Christi, die Nähe des Mensch gewordenen Gottes lässt ihn seine ganze verzweifelte Verlorenheit innewerden: „Herr, gehe von mir hinaus! Ich bin ein sündiger Mensch! Denn es war ihn ein Schrecken angekommen ...“

      Da gibt es nichts mehr, auf das er sich berufen könnte. Selbst die Zugehörigkeit zu Gottes Volk wird wesenlos. Da ist nur noch das Sündersein, jene höllische Verlorenheit. Doch dann erreicht ihn das rettende Wort Christi: „Fürchte dich nicht!“ In diesem Wort des Herrn erlischt die Hölle, schließt sich der Abgrund. Er ist – trotz aller Sünde – angenommen! Das „Fürchtet euch nicht“ auf Bethlehems Fluren erreicht hier einen Menschen und seine Ausweglosigkeit und richtet ihn auf.

      Das ist das neue Fundament, auf dem Petrus, auf dem wir uns allein gründen können und dürfen.

      Unmittelbar danach stellt Christus uns alle und den Petrus in seinen Dienst: „Denn von nun an wirst du Menschen fangen!“

      Das Wort, das uns aus Schuld, Tod und Gericht herausreißt, bleibt nicht allein. Die Jünger und wir alle mit ihnen werden „Seine Zeugen sein zu Jerusalem ... bis an das Ende der Erde“ (Apg. 1, 8).

      Das Wort Christi „fängt Menschen“ ein. Das Wort sammelt sich seine Gemeinde; seine Ecclesia, d. h. die Gemeinde der Glaubenden, die dem Wort vertrauen und die durch das Christuswort aus Sünde, Schuld, Angst und Tod „herausgerufen“ werden (so die sinn­gemäße Bedeutung des griechischen „Ecclesia“).


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    V

    Diese drei genannten Beispiele aus der Heiligen Schrift machen deutlich, dass das Wort Gottes in sich gleichsam zweipolig ist.

    Das Wort bewirkt einerseits ein heilsames Erschrecken: „Ich bin ein sündiger Mensch“; „sündig“, weil das strenge göttliche „Du sollst nicht!“ mich anklagt und zum Tode verdammt. Andererseits begegnet mir Gottes Wort als die Christus-Zusage, die den Verurteilten zum Leben begnadigt: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ (Matth. 9, 2 u. par.).

    Gottes Wort begegnet uns also zweipolig: als Gesetz und als Evangelium! Beide „Worte“ sind aufeinander bezogen und müssen demnach sorgfältig unterschieden werden. Es geht um Gottes richtendes und Gottes freisprechendes Wort. Allein in dieser „Zweipoligkeit“ ist die biblische Botschaft wahrhaft „katholisch“, d. h. universal, weil es die ganze Menschheit zu Gott zurückruft. Sie richtet und ruft die Glaubenden aus dem Tod ins Leben. So will Gott, dass allen Menschen auf der ganzen Welt (kat’ holän gän) geholfen wird.

    Die Kirche ist deshalb nur dann „katholisch“, insofern sie das Wort als Gesetz und als Evangelium – untrennbar und doch unterschieden – der verlorenen Menschheit ausrichtet.

    Grundlage dieser „Katholizität“ kann nur die Heilige Schrift sein, nicht auch noch andere menschliche, vernünftige oder sog. „spirituelle Ergänzungen, Auslegungen, Beimengungen oder Auslassungen. Die Schrift legt sich selber aus! Gerade in der Doppelpoligkeit von Gesetz und Evangelium wird ihre innere Einheit und Eindeutigkeit durch alle Überlieferungs­schichten der Schrift hindurch erkannt.

    Es war also die entscheidende Erkenntnis Martin Luthers, dass er die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium in der Schrift wieder entdeckte und sie dadurch von allen philosophischen Überlagerungen befreite. Damit hat er gerade die weithin verschüttete Katholizität der Kirche wieder hergestellt. Die der Reformation verbundenen Kirchen bedürfen es deshalb gerade nicht, bei der römischen Kirche Anleihen einer vermeintlichen Katholizität zu machen. Alle diese Versuche einer sog. „Ökumenizität“ (wie man heute gerne das „Katholischsein“ der Kirche umschreibt) könnte gerade die rechte, die allgemeine Univer­salität der Kirche Jesu Christi wieder in fremden Traditionen, in einer falschen Spiritualität und in einer neuen Gesetzlichkeit versinken lassen.

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    VI

    Der in den letzten Jahrzehnten gebräuchlich gewordene Begriff „ökumenisch“ ist ein viel­deutiges und schillerndes Wort; zumal man damit eine sog. „versöhnte Verschiedenheit“ meint, so als ob man nur die verschiedenen, in der Geschichte gewordenen Traditionen miteinander zu vergleichen und einander anzunähern brauche, um dann in irgendeiner Zukunft die Einheit der Kirchen, ja sogar aller Weltreligionen zu erreichen. Man redet deshalb gerne von einer „Komplementarität“, die das einander Unvereinbare in einer „coincidentia oppositorum“, in einem „Zusammenfall aller Gegensätze“ zusammenführt.

    Eine faszinierende Vision! Dennoch könnte sich in dieser visionären Utopie die satanische, die antichristliche Versuchung verbergen. In einer großen Schau zeigt nämlich der Versucher dem Sohn Gottes „alle Reiche der Ökumene“ (Luk. 4, 5; Matth. 4, 8). Die satanische Verlockung verspricht: „Das alles will ich dir geben“, „wenn du mich anbetest.“ (vgl. bei Luk. und Mtth. ebenso).

    Eine friedlich „vereinte“ Ökumene widerspricht nicht nur dem reformatorischen Bekenntnis, sie trägt vor allem das Signum der Lüge an der Stirn. Das Satanische an den Visionen einer geeinten Welt besteht darin, dass Christus – und mit ihm seine Gemeinde – dazu verleitet wird, den Kreuzweg zu verlassen und den „breiten Weg“ (Mtth. 7, 13) in einen „Gottesfrieden ohne Gott“ zu suchen.

    Christus dagegen widerstrebt der Versuchung einer sog. „versöhnten“ Welt, indem er den Kreuzweg wählt. Alle gegenwärtigen „ökumenischen“ Versuche verraten sich als das gefährliche Spiel, dem Herrn Jesus Christus beim Bau einer neuen, friedlich-versöhnten Welt „beizuspringen“: Der Satan meint es „gut“ mit ihm. Er könnte sich selbst und der Welt das Kreuz ersparen. Es bedürfe nur des „Menschen guten Willens“; es bedürfe nur „des freien Willens“; es bedürfe nur des „vernünftigen“ Einsatzes aller im Menschen angelegten „spirituellen Kräfte“, um eine „bessere Welt“ heraufzuführen. Die Geschichte der Welt ist von Anfang an bis zum heutigen Tage in diese Visionen gebannt. Das beginnt mit dem Turmbau zu Babel („auf daß wir uns einen Namen machen“) bis hin zu den Träumen einer klassen­losen Gesellschaft. Das begegnet uns auch in den Weltherrschaftsplänen eines Mohammed, der seine Anhänger beauftragt, die Ökumene dem Gesetz des Islam zu unterwerfen. Dieselbe Vision begegnet uns auch in den päpstlichen Friedensgebeten zusammen mit Vertretern aller Weltreligionen in Assisi und anderswo.

    Alle diese Versuche übersehen – trotz päpstlicher Autorität -, dass die Versöhnung der Welt nur durch das Kreuz Christi hindurch zu gewinnen ist. Der Weg zum Frieden kann nie „ökumenisch“ gewonnen werden. Der Weg führt nur durch die „enge Pforte“ (Mtth. 7, 14); d. h. durch Sündenerkenntnis und durch das im Glauben allein empfangene Geschenk der Vergebung und Versöhnung.

    Darin allein besteht der Auftrag der wahren katholischen oder allgemeinen christlichen Kirche. Ihr ist nicht aufgetragen, Weltkongresse für Frieden und Völkerverständigung zu organisieren. Das alles sind zwar „gut gemeinte“ Verständigungsversuche, die aber immer wieder scheiterten und auch künftig scheitern müssen. Alle diese Versuche sind nämlich an den schwachen und verkehrten Willen des Menschen gebunden, der das Heil nicht allein Gott anvertraut, sondern dabei auch sein freies Mitwirken geltend macht. Das Heil, die Rettung wird damit dem Gesetz überantwortet. Dieses Mitwirken aber stürzt die Menschheit immer wieder in den Hochmut der Selbstgerechtigkeit.

    Seit Adams Fall versucht der Mensch „er selbst“ zu sein. „Selbstfindung“ nennt man dies heute und preist es als höchstes Gut, das allein des freien Menschen würdig sei. Verstellt dagegen ist die den Menschen in seiner Selbstgerechtigkeit entlarvende Erkenntnis, dass das Gesetz nur Zorn anrichtet (Rö. 4, 15). Gottes Zorn offenbart sich als Feindschaft und Hass der Völker und Religionen untereinander, weil sie sich gegenseitig „beweisen“ müssen, dass ihre Gerechtigkeit die bessere ist. Eindrucksvoll macht das die Bibel am Brudermord Kains an Abel deutlich, der in seiner Selbstbefangenheit seinen Bruder beneidet, dessen Opfer Gott annimmt (1. Mose 4, 5); denn „durch Glauben hat Abel Gott ein größeres Opfer getan denn Kain“ (Hebr. 11, 4).

    So ist auch das Verhältnis der Religionen und der christlichen Konfessionen zueinander vor allem bestimmt durch die Gerechtigkeit aus Glauben an den Christus Gottes, den der Vater als ewiges Opfer für unsere Sünden dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auf­erweckt hat. Dieser sich selbst opfernde Gott in Christus ist unsere Gerechtigkeit. Andere Gerechtigkeiten gibt es vor Gott nicht, weder unser guter Wille noch unsere Frömmigkeit, weder das andächtig vollzogene Messopfer, weder unsere Selbstfindung noch jedwede religiöse Spiritualität. Das alles entspricht zwar einer „Katholizität“, die seit Adams Fall die Menschheitsgeschichte durchzieht, die aber dem Zorn und Gericht Gottes nicht entrinnen kann. Der Glaube rechtfertigt nicht deshalb, weil er so religiös, weil er so fromm oder spirituell ist. Der Glaube rechtfertigt den Sünder nur deshalb, weil er Christi Kreuzesopfer vertrauensvoll als „für uns“ geschehen annimmt! Mit diesem alle fromme Menschengerech­tigkeit ausschließenden „Für uns“ steht und fällt der wahre katholische Glaube.

    Dieser Sachverhalt zwingt dazu, alle ökumenischen Bestrebungen neu zu bestimmen. Die römische Kirche hat auf dem Konzil von Trient (1545-1563) ausdrücklich die Gerechtigkeit aus Glauben um Christi willen und die damit verbundene Heilsgewissheit verworfen. Sie hat damit das Evangelium selbst verworfen! An diesem ablehnenden Urteil hat sie bis heute nichts geändert, sondern im 2. Vatikanischen Konzil wurde es nur etwas modifiziert. Der jüngste römische Katechismus umschreibt das Evangelium vor allem als „neues Gesetz“. Der Mensch bleibt wieder bei sich selbst; wird auf sich selbst zurückgeworfen.

    Aber auch der Protestantismus hat das große, befreiende Geschenk der rechten Katholizität immer wieder verspielt. Es begann damit, dass man schwärmerischen Ideen Raum gewährte. Man beachtete nicht: „Der Enthusiasmus stecket in Adam und seinen Kindern von Anfang an bis zum Ende der Welt.“ (BKS 455). Der Enthusiasmus ist die Versuchung des menschlichen Herzens, das über sich selbst hinaufsteigt und neue bessere Welten entwerfen will. Der Vernunft würde wieder – wie einst in der mittelalterlichen Scholastik – ein Mitspracherecht eingeräumt, die Schrift „historisch-kritisch“ aufgelöst oder die Unter­scheidung von Gesetz und Evangelium würde umgedreht in Gottes Zuspruch und Anspruch (Barmen I). Auch damit wird wieder aus dem Evangelium ein neues Gesetz, dem wir im politischen Engagement, im Kampf gegen Rassismus und Aufrüstung und im Schwärmen für eine repressionsfreie Welt zu entsprechen hätten. Das ganze politisierende Elend des gegenwärtigen Protestantismus hat hier Grund und Ursprung. Dieses ganze Engagement der Kirche führt nicht in Freiheit, sondern verdammt zur Hilf- und Bedeutungslosigkeit.

    Nur der Weg der Umkehr gibt dem Wort der Kirche wieder Vollmacht: Das richtende Wort des göttlichen „Du sollst nicht“ und das freisprechende „Dir sind deine Sünden vergeben!“. In dieser von Gott selbst gegebenen Spannung von Gesetz und Evangelium werden Gottes Wort und Wahrheit vollmächtig verkündet, gewinnt die Kirche ihre Welt und Menschheit umspannende Katholizität zurück. Der Weg der Umkehr ist der Weg zurück zum Kreuz Christi. Dieser Kreuzweg führt die Gemeinde Christi freilich auch in Anfeindungen und Verfolgungen; denn „der Jünger ist nicht über seinem Meister“ (Mtth. 10, 24 f.; Luk. 6, 40).

    Die Welt ist dem Kreuz Christi und dem Wort vom Kreuz feindlich gesinnt. Gleichwohl bleibt die Verheißung Christi bestehen: „Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig!“ (Mtth. 24, 13; Mk. 13, 13 b).

    Dies umgreift die ganze Gemeinde der an Christus Glaubenden. Das ist wahrhaft ökumenisch oder katholisch. In dem Sinne bekennen wir „die eine heilige, allgemein-christliche und apostolische Gemeinde Jesu Christi“!

    Erstveröffentlichung in CA I/2003

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