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Zur Jahreslosung 2021

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Lk 6,36)

Pfr.Winfrid Krause, Rohrbach

Die Jahreslosung ist ein Wort Jesu, das aus der Redequelle Q stammt. Lukas hat wohl den Wortlaut, vielleicht auch den Kontext, besser bewahrt und es in die Feldrede eingebaut, wo es im Zusammenhang der Warnung vor dem Richten steht. Bei Matthäus steht es in der Bergpredigt als Abschluß der Antithesen im Zusammenhang des Gebots der Feindesliebe und lautet: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt 5,48; vgl. 19,21; Lk 6,40)

Barmherzigkeit ist ein zentrales Anliegen und ein besonderes Charakteristikum Jesu. In seinen Gleichnissen vom Reich Gottes und Beispielgeschichten zeigt er, wie Gott den Menschen barmherzig begegnet (Lk 15,11-32 verlorene Sohn; Mt 20,1-15 Arbeiter im Weinberg; Lk 14,16-24 große Abendmahl) und wir Menschen deshalb auch miteinander barmherzig umgehen sollen (Mt 18,21-35 Schalksknecht; Lk 10,25-37 barmherzige Samariter; Lk 16,19-31 reicher Mann und armer Lazarus). Entsprechend erbarmt sich Jesus immer wieder über Menschen in Not und hilft ihnen wunderbar (Mk 6,34 Menschen; Mk 1,34; Mt 14,14 Kranke; Mk 1,41; Lk 17,13 Aussätzige; Mk 8,2 Hungernde; Mk 10,47 Blinde; Mk 5,21; Mt 15,22; Lk 7,13 kranke und tote Kinder und ihre Eltern u.ö.). Jesus zeigt so als Gottes Sohn mit seinen Heilungen und Wundern, daß sein Vater im Himmel barmherzig ist und ermahnt und ermuntert uns zu entsprechendem Tun.

In diesen Zusammenhang gehört auch Jesu Doppelgebot der Liebe. Er faßt den Willen Gottes und das ganze Gesetz des Mose zusammen in dem einen Gebot, „den HERRN über alles zu lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Mk 12,28ff.) Weil Gott, wie die Apostel dann formulieren, „Liebe ist“ (1.Joh 4,8.16) und uns in seinem Sohn geliebt hat bis in den Tod (Joh 3,16; 13,1; Röm 5,8; Gal 2,20), sollen wir die im Glauben empfangene Liebe Gottes an unsere Mitmenschen weitergeben: „So folgt nun Gottes Beispiel als die geliebten Kinder und lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer.“ (Eph 5,1f.) Paulus ermahnt die Christen „durch die Barmherzigkeit Gottes“ zu einem Gott entsprechenden Wandel (Röm 12,1ff.). Der „Glaube“ an Gottes Liebe wird „durch die (Nächsten-)Liebe tätig“ (Gal 5,6). Jesus selbst sagt: „Das ist mein Gebot, daß ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe. Niemand hat größere Liebe als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.“ (Joh 15,12f.)

Die Barmherzigkeit Gottes hat für Jesus ihre besondere Zuspitzung in der Vergebung der Sünden. Weil Gott uns durch Jesus vergibt (Mk 2,5), sollen wir auch unserem Nächsten vergeben (Lk 6,37). Dem entspricht die 5.Bitte des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ (Mt 6,12) Dauerhaftes Zusammenleben von streitigen, sündigen und rechthaberischen Menschen in Beruf, Ehe und Familie ist ohne Vergebung gar nicht möglich. Glaube und Liebe, Gottes und unser Vergeben hängen hier ganz eng zusammen. Hierher gehört auch Jesu Seligpreisung: „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ (Mt 5,7) und seine Schilderung des Weltgerichts nach den Werken der Barmherzigkeit (Mt 25,31-46). Dabei ist nicht gemeint, daß wir uns Gottes vergebende Barmherzigkeit im Endgericht jetzt durch gute, barmherzige Werke und freundliche, vergebende Worte verdienen könnten. Sondern aus dem Vertrauen auf Gottes ewige, in Christus offenbarte Gnade handeln wir in Kraft des Hl.Geistes gnädig, und einem solchen Leben verheißt Jesus den „Lohn“ der Gnade am jüngsten Tag.

Dieser Zusammenklang von Barmherzigkeit und Sündenvergebung ist schon im Alten Testament angebahnt (Ps 51,3; Dan 9,9.18 u.ö.). Zwar offenbart sich Gott hier überwiegend in der Geschichte, aber sein Wesen wird auch direkt als barmherzig ausgesagt: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ (Ex 33,19) „HERR, HERR, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue.“ (Ex 34,5) „Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte.“ (Ps 103,5; ähnlich Num 14,18; Dtn 4,31; 2.Chr 30,9; Neh 9,17.31; Ps 86,15; 111,15; 145,8; Jes 54,10; Hos 11,8; Jo 2,19; Jon 4,2; Nah 1,5)

Im Neuen Testament wird diese an sich also nicht neue Barmherzigkeit Gottes für uns anschaulich und ganz konkret in seinem Mensch gewordenen Sohn, in seinen Worten von seinem „Vater im Himmel“ und seinen wunderbaren Werken, die er an den Menschen tut. Am Ende nimmt Jesus alle Schuld, alles Böse, alles Leiden dieser Welt auf sich, sühnt unsere Sünde durch sein Opfer am Kreuz, verwirklicht so die Gerechtigkeit Gottes, die sich unser erbarmt, uns vergibt und das ewige Leben im Reich Gottes eröffnet. Kreuz und Auferstehung Christi sind so die unüberbietbare Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes - für jeden, der glaubt.

Manche Christen und Theologen meinen zwar, solche Barmherzigkeit sei mit dem allgemein Guten identisch und leuchte allen Menschen auch unabhängig vom Glauben an den jüdisch-christlichen Gott ein. Aber das ist – außer in existentieller Bedürftigkeit und Not – wohl ein platonischer Irrtum und eine ethische Illusion. Denn die Barmherzigkeit wird im Sozialstaat gerne egoistisch mißbraucht; „Liebe in Strukturen“ ist eine contradictio in adiectio, und wer Gesetz und Evangelium nicht unterscheidet, sondern vermischt oder gar identifiziert, ist nach Luther kein christlicher Theologe. Nietzsche, der als Pfarrerssohn das Christentum sehr wohl kannte, vertrat unter darwinistischer Berufung auf das „Leben“ in der Natur eine ganz unbarmherzige Ethik der Macht und karikierte die christliche Nächstenliebe als „Sklavenmoral“, obwohl sich Erbarmen mit den Armen umgekehrt erst der Erfahrung der göttlichen Barmherzigkeit in der Befreiung von der Sklaverei Ägyptens und dem christlichen Exodus aus Sünde und Tod verdankt. Gesetz und Evangelium, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bleiben in der Welt tiefe Gegensätze. Im Reich Gottes, in Christus wird dieser Abgrund überwunden.

Als Christen befolgen wir nicht blind irgendwelche Gebote Gottes, wie im Judentum der bloße Gehorsam als besonders verdienstlich galt. Sondern wir verstehen, was Gott uns in Christus geschenkt hat und sein Herz und Wesen ausmacht, und lassen uns von seinem Beispiel anstecken. Der Hl.Geist, „der vom Vater und vom Sohn ausgeht“, der „Geist der Liebe“ (Röm 15,30; 1.Kor 4,21; Kol 1,8; 2.Tim 1,7) und „Geist der Gnade“ (Sach 12,10; Hebr 10,29), bringt ohne Gesetz ganz von selbst „Früchte“ der Liebe hervor (Joh 15,16; Gal 5,18.22.25). Im Geist des Glaubens und der Liebe erfüllen wir so das „Gesetz Christ“ (Gal 6,2; 1.Kor 9,21; vgl. Röm 8,2). Wir brauchen deshalb als Kirche gar nicht umfassend formulieren, wo Barmherzigkeit heute angebracht wäre. Politik von der Kanzel entmündigt die Christen und leert die Kirchen. Es reicht, wenn wir mit dem Evangelium dafür sorgen, daß die Herzen der Hörer mit der „herzlicher Barmherzigkeit unseres Gottes“ (Lk 1,78) erfüllt werden. Ist dies geschehen, wird der Hl.Geist schon dafür sorgen, daß jeder Christ die Situationen und Personen in seinem Leben erkennt, wo „herzliches Erbarmen“ (Kol 3,12) geübt werden sollte, und sich nicht verbal, sondern wirklich erbarmt.

Philipp Friedrich Hiller dichtete 1767 folgendes Lied (EG 355):

Mir ist Erbarmung widerfahren,
Erbarmung, deren ich nicht wert;
das zähl ich zu dem Wunderbaren,
mein stolzes Herz hat's nie begehrt.
Nun weiß ich das und bin erfreut
und rühme die Barmherzigkeit.


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