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Selbstbestimmung zwischen Gemeinschaft und Gottesbestimmung

Gedanken aus Anlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts



Für viele Christen schockierend ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts Ende Februar 2020. Darin geht es um die Frage der Beihilfe zur Selbsttötung auf Verlangen von sterbenskranken Menschen. Das höchste deutsche Gericht erkennt ein Recht auf Selbsttötung an und leitet es aus dem Recht auf Selbstbestimmung ab. Darum – so das Gericht - könne die gewerbsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung nicht generell strafbar sein. Es geht also um „Selbstbestimmung“. Vielen erscheint sie als höchstes Gut. Auch in Kirche und Diakonie wird immer wieder in Leitsätzen von Kindergärten, Jugendhilfe-, Behinderten- und Senioreneinrichtungen von „Selbstbestimmung“ gesprochen. Selbstbestimmung ist in aller Munde. Aber ist das christliche Verständnis von Selbstbestimmung deckungsgleich mit dem weltlichen Verständnis?

Fragen wir zunächst einmal, was eigentlich Selbstbestimmung ist. Sie bedeutet, dass andere Menschen kein Recht haben, über mein Leben zu bestimmen. Aber zugleich findet jede Selbstbestimmung nach allgemeiner Einsicht und im Einklang mit den Zehn Geboten dort ihre Grenze, wenn sie rücksichtslos wird, wenn also durch meine Willensentscheidung andere Menschen oder auch Tiere, Pflanzen, die Natur geschädigt werden. Selbstbestimmung – und das wird heute oft vergessen - befindet sich also immer in Spannung zur Gemeinschaft. Der Kollektivismus (Kommunismus/Nationalsozialismus/Islamismus) sagt: „Die Gemeinschaft ist alles, der Einzelne ist nichts.“ Folge davon waren und sind Terror und Millionen Tote, die für vermeintlich gute Zielen ermordet wurden und werden. Ein schrankenloser Individualismus sagt: „Der Einzelne ist alles, die Gemeinschaft ist nichts.“ Die biblische und die vernünftige Einsicht betonen demgegenüber gleichermaßen: Ausgangspunkt ist immer die unantastbare Menschenwürde des einzelnen Menschen, der aber zugleich gemeinschaftsdienlich handeln soll. So hat es Luther auch in seiner berühmten und wirkmächtigen Freiheitsschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ vor genau 500 Jahren herausgearbeitet. Dass das Kollektiv über den einzelnen und seine individuellen Rechte nicht verfügen kann, ist kein Freibrief für rücksichtloses Handeln auf Kosten anderer. Meine Freiheit endet immer dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Bis hierhin gibt es eine große Übereinstimmung zwischen Christen und Atheisten.

Für den Christen findet die Selbstbestimmung aber zudem eine Grenze in Gottes Willen. Das können Atheisten naturgemäß nicht sehen. Dennoch handelt es sich um eine tiefe, unumstößliche Wahrheit, die für alle Zeiten und alle Menschen gültig ist. Das heißt: Meine Selbstbestimmung endet auch dann bei Gott und seinem Wort, wenn scheinbar niemand geschädigt wird. Genau dies zeigt uns die Paradieserzählung von Adam und Eva. Der Griff nach den Früchten vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen (kein Apfelbaum!) schädigt niemanden. Aber er ist Ungehorsam gegenüber Gottes Gebot. Leben im Paradies ist in biblischer Sicht gerade nicht Leben im Modus der Selbstbestimmung, sondern Leben im vertrauenden Gehorsam gegenüber Gott, der uns wie ein liebender Vater mit allem versorgt und der als einziger das Recht hat, über mein Leben zu bestimmen. Dabei dürfen wir jedoch nicht vergessen, dass Gott uns zur Liebe bestimmt hat. Indem wir wie Jesus Christus für andere da sind, werden wir dieser Bestimmung gerecht. Zu dieser Bestimmung gehört auch, dass wir uns nicht selbst erlösen können, sondern voll und ganz auf Jesus Christus als Erlöser angewiesen sind. Die biblische Wahrheit entfaltet sich durch die Spannung zwischen Selbstbestimmung und Gottes Bestimmung für mein Leben, zwischen meinem Willen und dem, was Gott von mir will (beides ist eben nicht deckungsgleich!), zwischen Freiheit und vertrauendem Gehorsam, zwischen unserem Tun und Gottes Tun. Die Bibel leitet uns an, dies zu unterscheiden und jedem Aspekt seinen Ort zuzuweisen.

Martin Luther hat dies erkannt und deshalb Erasmus von Rotterdam sinngemäß entgegnet: Der freie Wille endet da, wo Gott etwas Anderes für uns bestimmt hat. Es kann kein Mensch über die letzten Fragen bestimmen. Es kann niemand darüber bestimmen, wann er oder sie geboren wird und wann er oder sie stirbt. Genau um diesen Punkt geht es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es kann auch niemand darüber bestimmen, in welcher Weise er oder sie zum ewigen Leben gelangt.

Die vorletzten Dinge können wir im Hören auf Gottes Wort und unter der Bedingung der Zweideutigkeit unserer noch nicht erlösten Welt zum Besseren gestalten. Die letzten Dinge sind uns von Gott her bestimmt. Wir können sie nur empfangen. Wer in der Begegnung mit Gottes Wort seine Maßlosigkeit, seine Überheblichkeit und seinen Ungehorsam gegenüber Gott und seinem Wort erkennt, sein für-sich-selbst-da-sein-Wollen anstatt für andere da zu sein, der wird allein durch Jesus Christus das rechte Maß und die neue Verbindung mit Gott wiederfinden. So wie Martin Luther es einmal trefflich beschrieben hat: Der Glaube an Jesus Christus bewirkt, dass aus verlorenen, gottlosen Sündern, die wie Gott sein wollen, wahre Menschen werden.
Von Pfarrer Thomas Berke, Mülheim und Veldenz



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