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Die Bibel ist nicht wichtig?

In Heft 2/2014 des „Deutschen Pfarrerblattes“ schreibt Hochschulpfarrer Dr. Michael Seibt (Tübingen) unter der Überschrift „Allein die Schrift“ einen Aufsatz mit 18 „Thesen zum Bibelverständnis im 21. Jahrhundert“. Er will den reformatorischen Grundsatz „Allein die Schrift“ für die heutige evangelische Kirche nicht mehr gelten lassen. Die biblischen Texte seien „menschliche Berichte von den Eindrücken Gottes in ihrem Bewusstsein“ und „nicht an objektiven Tatsachen interessiert“ (These 7). Die Bibel lehre keinen verbindlichen Glaubensinhalt, sondern könne als „Strom menschlicher Gedanken über Gott“ betrachtet werden (These 10), genauso wie andere Texte anderer Religionen (These 11). Ein solches „undogmatisches Bibelverständnis“ (These 12) bedeute, dass es nicht um „Gottes Wort“ gehe, sondern dass „jeder einzelne Leser der Bibel in eigener Entscheidung einem Wort der Bibel seine Zustimmung gebe“ (These 14) oder nicht. Aufgrund der „heutigen Kenntnisse von der Evolution des Lebens und der Entwicklung des Universums“ könne man die alten biblischen Texte nur noch „symbolisch“ und als „Sprache des Mythos“ lesen. Sie entspräche nicht „den heutigen Kriterien für historische Verlässlichkeit“. Der kirchliche Bezug auf die Bibel stehe „gegenwärtigen Gotteserfahrungen“ im Wege. Kirche müsse sich verändern und solle sich das „Miteinander … auch unterschiedlicher Religionen“ wie „in einem offenen Haus vorstellen, in dem es mehrere Zimmer gibt. die man ungehindert betreten, wechseln und sich darin nach Belieben aufhalten kann“.

Sind diese Behauptungen nur die Meinung eines einzelnen Pfarrers, dem das „Deutsche Pfarrerblatt“ aus Freude an der Provokation Raum gegeben hat?

Vermutlich steckt doch mehr dahinter. Immerhin beruft sich Seibt auf den Theologen Friedrich Schleiermacher im 19. Jahrhundert und auf gegenwärtige Theologieprofessoren wie Hubertus Halbfas und Claus-Peter Jörns. Er könnte sich aber auch auf zahlreiche Prediger, Theologen und Kirchenleiter berufen, die die Bibel genauso miss-verstehen, wie er es propagiert.

Eine jahrzehntelange Entwicklung in der evangelischen Kirche trägt ihre faulen Früchte: Die Bibel gilt nicht mehr als das offenbarte geschriebene Wort Gottes in der Gestalt menschlicher Worte, sondern als antike Sammlung orientalischer Phantasiegeschichten, aus denen man sich das eine oder andere Rosinchen für den Gebrauch im 21. Jahrhundert herauspicken kann – oder eben auch nicht. Dabei unterscheidet sich die Bibel nach dieser Auffassung nicht grundsätzlich von anderen religiösen Schriften. Auch der Koran, Goethe oder moderne Esoteriker können Bedenkenswertes an die Menschen vermitteln, wie auch gelegentlich Mose, die Psalmen oder Jesus.

Wer nun einwendet, in Gottesdiensten werde doch immer noch aus der Bibel gelesen und auf Kirchentagen beginne der Tag mit Bibelarbeiten, sollte darauf achten, unter welcher Vorgabe die Bibel zur Kenntnis genommen wird. Häufig wird sie in die Zwänge eines neuen Dogmas gepresst wie es zum Beispiel Pfarrer Seibt im „Deutschen Pfarrerblatt“ tut.

Dieses Dogma lautet: Wir müssen die Bibel mit dem Filter der kritischen Rationalität und des wissenschaftlichen Kenntnisstandes des 21. Jahrhunderts lesen. Nur das, was vor diesem menschlichen Urteil Bestand hat, kann als Bibelwort in das moderne Denken eingefügt werden und mehr oder weniger Bedeutung für moderne Christenmenschen gewinnen.

Nach diesem Dogma werden in den Gemeinden Predigten gehalten und an den Universitäten Vorlesungen und Seminare. In Synoden und Kirchenleitungen werden Beschlüsse gefasst, die unausgesprochen oder sogar erklärtermaßen auf diesem Dogma beruhen. Es heißt dann, dass die Bibel die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht im Blick haben konnte und dass deshalb bestimmte Folgerungen für die Kirche zu ziehen seien.

Wer dieses Dogma in Frage stellt oder sich ihm widersetzt, gilt als verdächtiger Fundamentalist und muss von verantwortlichen Leitungsaufgaben unbedingt ferngehalten werden.

Insofern ist es nur konsequent, wenn Pfarrer Seibt die Abschaffung des reformatorischen „sola scriptura“ (allein die Schrift) fordert. Sie soll nicht mehr als alleinige Quelle und Richtschnur des Glaubens, der Lehre und des Lebens dienen. In vielen praktischen Handlungen und Vollzügen der evangelischen Landeskirchen ist dieser Grundsatz entweder abgeschafft oder bis zur Unkenntlichkeit relativiert worden. Deshalb können zum Beispiel Gottesdienste als multireligiöse Feiern gestaltet werden und deshalb kann zum Beispiel die Ev. Kirche in Deutschland mit ihrer „Orientierungshilfe“ Desorientierung verbreiten und die Begriffe Ehe und Familie auf die vorfindliche Vielfalt privater Lebensformen ausweiten. Dies tut sie ausdrücklich ohne eine biblisch-theologische Begründung bzw. in direktem Gegensatz zu den biblischen Maßstäben.

Solche Handlungsweisen passen gut in die aktuelle gesellschaftliche Leitkultur, die, wie Seibt mit Recht feststellt, von „Individualisierung und religiöser Pluralisierung geprägt ist“.

Die Bibel passt nicht in diese Gegenwart, wie Seibt ebenfalls feststellt. Wenn aber die Bibel, wie sie von sich selbst sagt, beinhaltet, dass „Menschen, getrieben vom Heiligen Geist, im Namen Gottes geredet haben“ (2. Petrus 1, 21), dann passt sie in gar keine Leitkultur, sondern ruft Menschen aller Zeiten und aller Kulturen vor den allmächtigen Gott, verändert sie durch sein Wort und sendet sie mit der Kraft seines Geistes in ihre jeweilige Kultur hinein.

Dass man diesen Anspruch der Bibel verleugnen, verwässern, totschweigen und missbrauchen kann, ist aufgrund der Erfahrungen der Kirchengeschichte nichts Neues. Irrlehren, Streit und Spaltungen hat es leider immer gegeben, vor allem deshalb, weil Christen „gerecht und Sünder zugleich“ sind, wie Luther feststellte.

Aber dass evangelische Landeskirchen in Deutschland, ausgestattet mit allen Freiheiten und mit sehr viel Geld, die Bibel unter das Dogma des modernen Vernunftglaubens zwingen, ist schon eine Tragik besonderer Art. In anderen Ländern dieser Welt riskieren Christen Leib und Leben, um die Bibel als das lebendige Wort Gottes lesen zu können. In Deutschland dagegen erklären Theologen, dass man lieber seiner eigenen kritischen Vernunft folgen solle als den Worten der Bibel, weil sie nur menschliche Gedanken widerspiegeln würden.

Dieser Vernunftglaube, den Seibt in seinem Aufsatz darstellt, ist eigentlich hohl, er kann gerade nach wissenschaftlichen Maßstäben keine Begründung der Welt bieten.

Die Evolution als Welterklärung, die auch in der Kirche verkündet wird, wird gerade von atheistischen Wissenschaftlern in Frage gestellt, weil zu viele Fakten nicht in die Theorie passen und sie sprengen.

Von der Entwicklung des Universums wissen wir im Gegensatz zur Meinung von Seibt letztlich nichts „Objektives“, wie er gerne formuliert, denn auch die Urknalltheorie ist weit davon entfernt, eine schlüssige allgemein anerkannte wissenschaftliche Erkenntnis zu bilden, weil sie immer wieder durch neue Beobachtungen in Frage gestellt wird.

Dass schließlich die historisch-kritische Forschung an der Bibel entdeckt haben soll, wie die Texte gemeint seien und was historisch aufweisbar in biblischer Zeit geschehen sei, wird auch der größte Optimist nicht behaupten. Immer wieder wechseln die Theorien und die Methoden der Bibelauslegung und widersprechen einander – auch die tiefenpsychologische und die feministische Auslegung werden nicht das Ende der theologischen Fahnenstange bedeuten.

Als Lösung bleibt dem Vernunftgläubigen nur das, was Seibt ausspricht und für angemessen hält: Jeder sucht sich aus dem biblischen und dem allgemein-religiösen Fundus das aus, was ihm gefällt und was er – für eine gewisse Zeit – für sein Leben übernehmen möchte.

Damit wird aber die Bibel letztlich überflüssig und die christliche Kirche ebenfalls. Das Dogma des Vernunftglaubens wird die Funktionäre und Institutionen einer vernunftgläubigen Kirche für entbehrlich erklären, früher oder später.

Der andere Lehrsatz, der Zukunft hat und der die Gegenwart der Kirche prägen sollte, lautet, dass Gott durch Menschen geredet hat und dass das Wort Gottes in den Heiligen Schriften der Bibel eine schriftliche Gestalt gewonnen hat. Deshalb kann es in Gesetz und Evangelium gepredigt werden und deshalb kann der gekreuzigte und auferstandene Jesus Christus seine Gemeinde bauen und durch sie im 21. Jahrhundert wirken.

Welcher Glaubenssatz die evangelische Kirche in Zukunft bestimmen wird, muss sich noch erweisen. Eindeutig ist aber, dass ein Glaube an die eigene Fähigkeit, Gott und die Welt und die Bibel mit den Vorgaben des Verstandes erklären zu können, keinen „Trost im Leben und im Sterben“ gibt (Heidelberger Katechismus). Solchen Trost finden Menschen allein im Vertrauen auf Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, wie ihn uns die Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes bezeugt.

Pfarrer Wolfgang Sickinger 2014



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