[Startseite]


Reformation und Toleranz:

Provokante Gedanken zu den Gespensterdebatten über Intoleranz in unserer Kirche



Das Jahr 2013 ist innerhalb der Reformationsdekade zum „Jahr der Toleranz“ erklärt worden. Es wäre eigentlich eine gute Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass sich Begriff und Gedanke der Toleranz bereits bei Martin Luther befindet. Luther spricht von der "unbegreiflichen Toleranz und Weisheit Gottes" ("incomprehensibilem tolerantiam et sapientiam Dei", WA 39/I,82,31). Zudem hat er 1541 in einem Brief an die Fürsten von Anhalt erstmals auf Deutsch von der "tolerantien" in den Religionsstreitigkeiten des deutschen Reiches geschrieben (WABr 9,439,70).

Toleranz bereits bei Luther vorhanden

Die Reformation hat durch die Unterscheidung von Staat und Kirche in der Zwei-Regimenten-Lehre und durch ihren Grundsatz „ohne Gewalt, aber durch das Wort“ („sine vi, sed verbo“, Augsburger Bekenntnis Artikel 28, der Sache nach auch in Luthers Schrift „Von weltlicher Obrigkeit“) der Toleranz, also der Duldung anderer Auffassungen in Glaubensfragen, den Boden bereitet. Seit Martin Luther kann es mehrere religiöse Bekenntnisse nebeneinander in einem Land geben.

Wer nun erwartet hätte, dass in den offiziellen Broschüren der Evangelischen Kirche in Deutschland auf diese Leistung der Reformation hingewiesen würde, wird enttäuscht. Stattdessen wird die Kirchengeschichte als eine Geschichte der Intoleranz in den dunkelsten Farben dargestellt.

Mir kommt Vieles, was ich da lese, gespenstisch vor. Da werden alle möglichen christlichen Verfehlungen der letzten 2000 Jahren mit stereotypen Wendungen aufgewärmt. Alles unbestreitbar. Aber wer muss hier von was überzeugt werden? Ich persönlich kenne im kirchlichen Bereich niemanden, der kirchliche Intoleranz früher Zeiten nur im Ansatz verteidigt.

Beredtes Schweigen zur Intoleranz gegenüber Christen

Demgegenüber gibt es ein verdächtiges Schweigen gegenüber der Intoleranz, die Christen heute erleiden. Man muss es sich vor Augen halten: Da wird längst überwundene kirchliche Intoleranz früherer Zeiten wortreich aufgeblasen, aber zu der Intoleranz, die Christen heute erleiden, kaum ein Wort verloren.

Ich vermute einen Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen. Wenn nämlich – wie oft suggeriert wird - das 1. Gebot und das reformatorische „solus Christus“ die Hauptursache für Intoleranz wären (was sie im biblischen Sinn nicht sind), dann wären christliche Opfer von Intoleranz an ihrem Schicksal selbst Schuld. Ganz nach dem Motto: Würden sie zumindest auf das intolerante „solus Christus“ verzichten, könnten sie doch ganz gut mit den Muslimen auskommen, und bei einem zusätzlichen Verzicht auf das 1. Gebot ließe es sich selbst in Nordkorea ganz gut als Christ leben … Waren nicht schon im alten Rom die Christen selbst an ihrem Verfolgungsschicksal Schuld, weil sie nicht bereit waren, ihren Jesus im Pantheon, dem römischen Heiligtum der religiösen Toleranz, aufzustellen?

Muss das „solus Christus“ überwunden werden?

Zugegeben, ich überspitze hier, um den entscheidenden Punkt deutlich zu machen: Die Gespensterdiskussionen zielen auf die Abschwächung des Bekenntnisses zu Jesus Christus und des 1. Gebotes. Beides wird als Störfaktor für den religiösen Dialog und die multireligiöse Gesellschaft angesehen. Aber welche andere Religion wäre bereit, auf ihren Kern zu verzichten, nur um bei den anderen Religionen nicht anzuecken?

Ist Toleranz Verzicht auf eine eigene Position?

In seinem Büchlein über Freiheit hat Bundespräsident Joachim Gauck Mut gemacht, Stellung zu beziehen. Er tut das mit dem entwaffnenden Satz: „Ich glaube nicht, dass derjenige, dem alles egal ist, den Preis für Toleranz verdient.“ Dahinter steht die Erfahrung, die er als Christ und Pfarrer in der DDR gemacht hat. Wo Toleranz als Gleichgültigkeit und Verzicht auf eine eigene Position missverstanden wird, entgleitet sie schnell zu einer Toleranz gegenüber Menschenrechtsverletzungen. Verständnisvoll und „tolerant“ nimmt man dann Menschenrechtsverletzungen als kulturell oder religiös bedingt hin nach dem Motto: „Die sind halt so, das gehört bei denen dazu!“ Aus der gleichgültigen Toleranz wird auf diese Weise die Tolerierung der Intoleranz.

Joachim Gauck hat diese Tolerierung der Intoleranz seitens westlicher Intellektueller und Kirchenvertreter zur DDR-Zeit erlebt. Sie führte dazu, dass zu Menschenrechtsverletzungen in der DDR geschwiegen wurde und die Hilfe für die Opfer unterblieb.

Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen intolerant?

Ist das heute nicht ganz ähnlich in Hinblick auf die zunehmenden Menschenrechtsverletzungen an Christen und anderen Nicht-Muslimen in vielen islamischen Ländern? Oft läuft die Diskussion nach folgendem Schema ab: Da spricht einer Menschenrechtsverletzungen in islamischen Ländern an (z.B. Todesstrafe für Abkehr vom Islam oder die Instrumentalisierung der Blasphemie-Gesetze zur Schikanierung von Christen). Es kommt dann ein „Verharmloser“, der abstreitet, dass dies etwas mit dem Islam zu tun habe. Zugleich stellt er den, der mutig diese Menschenrechtsverletzungen anprangert, in die intolerante Ecke: „Du bist intolerant, weil du ein Zerrbild vom Islam entwirfst!“ Man erinnert sich unwillkürlich an die Zeit der Sowjet-Union. Da hieß das: „Du bist ein kalter Krieger und Friedensfeind, weil du ein Zerrbild vom Kommunismus entwirfst.“

Nach dem Ende der Sowjet-Union stellte sich heraus, dass die Menschenrechtsverletzungen noch viel schlimmer waren. Man darf annehmen, dass es sich heute in Hinblick auf die Menschenrechte in vielen islamischen Ländern genauso verhält. Wir sehen immer nur die Spitze eines Eisbergs.

Nein, es ist nicht alles egal. Es ist nicht egal, ob in einem politischen System, in einer Religion oder Weltanschauung die Würde des Menschen unantastbar ist oder einer Gruppe von Gegnern die Menschenwürde abgesprochen wird. Es ist auch nicht egal, ob wir Menschen darauf angewiesen sind, dass Gott zu uns herunter kommt, oder ob behauptet wird, dass der Mensch aus eigener Kraft zu Gott kommen könne. Hier geht es um eine grundlegende Wahrheit unseres Menschseins. Toleranz ist der Wahrheit und der Liebe gleichermaßen verpflichtet.

Die überraschende Toleranz des „solus Christus“

So ist das scheinbar intolerante „solus Christus“ die Grundlage für die richtig verstandene Toleranz. Indem die Grenzen des Menschen gegenüber Gott aufgezeigt werden, entsteht zugleich auch ein Raum zum Atmen für den Mitmenschen, der in gleicher Weise auf Gott angewiesen ist. Die Wahrheit unseres christlichen Glaubens beinhaltet die Liebe, die sich für den ganz anderen und sogar für den Feind hingibt. Gott zeigt uns diese Liebe in Jesus Christus, indem er sich für uns Menschen hingibt und dabei die Gottlosen und Gottesverächter einschließt. Diese Erfahrung mit Gott leitet uns zur Liebe an, die unseren Feinden gilt. Wir können auch die ertragen, die anders sind, die keinen oder einen anderen Glauben haben, weil wir wissen, dass Gott uns mit unserem Unglauben trägt und erträgt. Toleranz ist also untrennbarer Teil der christlichen Wahrheit.

Wir sollten darum keineswegs das Besondere des christlichen Glaubens im Namen einer falsch verstandenen Toleranz ad acta legen. Im Gegenteil: Gerade weil wir Christen sind, ist uns nicht alles egal. Darum sollten wir uns auch heute ohne Menschenfurcht zu Jesus Christus als dem einzigen Herrn und Heiland bekennen und uns für alle einsetzen, denen wegen ihres Glaubens die Menschenwürde abgesprochen wird.

Thomas Berke, Pfarrer der Kirchengemeinden Mülheim an der Mosel und Veldenz



[Seitenanfang] [Startseite]