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Maranatha (1. Kor. 16, 22)
Advent heißt: Der Herr kommt
Reiner Vogels

Seit es Menschen gibt, haben sie sich mit dem Grundwiderspruch ihrer Existenz auseinandersetzen müssen. Sie wollen mehr, als sie können. Ihre Sehnsucht ist größer als diese Welt. Sie suchen das Vollkommene und sind doch unvollkommene Menschen in einer unvollkommenen Welt. Sie wollen Ewigkeit und sind doch vergänglich. Sie suchen nach Einheit und sehen nur Zerrissenheit. Sie wollen Wahrheit und können sie nicht erkennen. Sie wollen Erlösung und leben in einer unerlösten Welt.

In der Philosophie des Abendlandes gibt es zwei verschiedene Denkansätze, die versuchen, dieses existentielle Grundproblem des Menschen zu überwinden:

Der erste ist mit dem griechischen Philosophen Platon verbunden. Danach ist die Wirklichkeit zweigeteilt. Auf der einen Seite gibt es die "ideale" Welt der Ideen und auf der anderen die sichtbare und sinnlich erfahrbare Welt. In der Ideenwelt gibt es Vollkommenheit, in der sichtbaren Welt nicht. Die Seele des Menschen nun gehört eigentlich in die Welt der Ideen. Dorther kommt sie. Aus dieser Welt hat sie vor ihrer Verbindung mit einem irdischen menschlichen Körper die Erinnerung an diese vollkommene Welt bewahrt. Naturgemäß strebt sie daher danach, wieder in diese Welt zurückzugelangen. Sie will auch schon in diesem Leben das eigene Denken und Handeln so gestalten, dass es sich der ewigen Welt annähert. Konstitutiv für diese platonische Vorstellung ist die Überzeugung, dass sich beide Welten statisch gegenüberstehen. Es gibt keine Entwicklung in der Zeit. Es gibt nur Aufstieg und Abstieg zwischen den Welten.

Der andere Entwurf, ein bewusster Gegenentwurf, liegt in der Philosophie des deutschen Philosophen Hegel vor. Er will die Zweistufenwelt und die zeitliche Unveränderbarkeit überwinden. Deshalb verlegt er das Vollkommene nicht gewissermaßen als zweite Etage der Welt in die Welt der Ideen, sondern an das Ende der Geschichte. Die Geschichte der Welt und des "Weltgeistes", der die Geschichte vorantreibt, ist eine Geschichte der Entwicklung zum Vollkommenen.

Beide Denkansätze sind für den Menschen letztlich unbefriedigend. Beide geben im Grunde die Gegenwart, das tatsächliche Leben des Menschen im Diesseits, auf und entwerten es. Im Blick auf die irdische Welt sind sie im Grunde nihilistisch. Für Platon ist das Diesseits lediglich ein Ort, in dem man sich der jenseitigen Welt annähern, von dem man aber vor allem fliehen muss. Für Hegel ist die Gegenwart lediglich ein unvollkommenes Durchgangsstadium zu einer besseren Zukunft. Die marxistischen Schüler Hegels haben daraus bekanntlich den logischen Schluss gezogen, dass man um der besseren Zukunft ("klassenlose Gesellschaft") willen in der Gegenwart bedenkenlos gewalttätig sein und Verbrechen verüben dürfe ("Diktatur des Proletariats").

Die christliche Botschaft nun, insbesondere die Adventsbotschaft, ist etwas völlig anderes. Sie ist überhaupt kein philosophisch-menschlicher Denkansatz, der versuchen würde, vom Menschen her eine Brücke zur Welt der Vollkommenheit zu bauen. Sie ist im Gegenteil eine Nachricht, eine Nachricht vom Brückenbau, den Gott vollzogen hat. Das Evangelium erzählt, dass Gottes Sohn sich aufgemacht hat aus seiner vollkommenen Herrlichkeit und in die Welt des Menschen hineingegangen ist. Mehr noch: Er ist selbst Mensch geworden und hat sich unauflöslich und untrennbar mit dem menschlichen Geschick verbunden. Der Grundwiderspruch der menschlichen Existenz kann vom Menschen her niemals aufgelöst werden. Er kann und konnte nur von Gott selbst überwunden werden. Und genau das hat der Herr Jesus getan.

Am Ende des 1. Korintherbriefes steht in aramäischer Sprache der urchristliche Gebetsruf "Maranatha". Er wird am Schluss der Offenbarung des Johannes (Offb. 22,20) in griechischer Sprache aufgegriffen: "Amen, ja, komm, Herr Jesus!" Rein grammatisch kann das Wort "Maranatha" zweierlei bedeuten. Es könnte eine Bitte sein, wie sie in der Offenbarung formuliert ist, nämlich: "Unser Herr, komm!". Es kann aber auch übersetzt werden: "Unser Herr ist gekommen und ist gegenwärtig." Ich denke, beide Übersetzungen sind richtig. Und beide sind auch gemeint. Wenn die urchristliche Gemeiende im Gottesdienst "Maranatha" gerufen hat, dann hat sie beides gesagt: "Unser Herr ist gekommen, er ist mitten unter uns", haben sie gejubelt und gleichzeitig haben sie in der Hoffnung der Wiederkunft Christi gebetet: "Unser Herr, komm!" Beides zusammen ist die Botschaft des Advent.

In diesem Sinne wünsche ich unseren Lesern mit dem Wort "Maranatha" eine gesegnete und zuversichtliche Adventszeit.
Pfr. i.R. Reiner Vogels, Swisttal, 1. Advent 2009



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