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Der langjährige frühere Vorsitzende und jetzige Ehrenvorsitzende unseres Konvents, Sup.em. Ernst Volk hat einen Aufsatz über das Verhältnis der Religionen des Judentums, des Islam und des Christentums zueinander geschrieben. Wir geben ihn an dieser Stelle im Wortlaut wieder.

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Weder auf diesem Berg noch zu Jerusalem (Joh. 4,21)

Überlegung zum Verhältnis dreier Religionen
von Ernst Volk

I.

Ratlosigkeit beschleicht Herz und Hirn der Menschen. Mehr als zehn Urlauber kommen auf der tunesischen Ferieninsel Djerba bei der Besichtigung einer altehrwürdigen jüdischen Synagoge im Feuersturm um. Die Verbindungen der moslemischen Attentäter reichen nicht nur bis in die USA, sondern auch bis nach Deutschland und Frankreich. Nicht zufällig sind es deutsche Urlauber, die es trifft. Ist doch in Frankfurt/Main ein Prozess gegen moslemische "Fundamentalisten" (so nennt man sie heute allenthalben) eröffnet worden, denen die Planung eines Sprengstoffattentats in Straßburg vorgeworfen wird. Das alles sind keine zufälligen Parallelen. Der befürchtete "Kampf der Kulturen" ist längst in Gang; und wir werden in diese blutigen Auseinandersetzungen hineingezogen.

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Der amerikanische Präsident spricht von einem weltweiten "Krieg gegen den Terrorismus". Der deutsche Kanzler aber versichert den USA "bedingungslose Solidarität", und die Politiker baden in dem Gefühl selbstgewisser Gerechtigkeit. Doch währenddem verbeißen sich in Palästina/Israel zwei Kulturen, ja zwei Religionen schier ausweglos ineinander. Palästinensische "Märtyrer" – so bezeichnen sie sich in maßloser Verblendung – sprengen sich in Gasthäusern, in Einkaufsstraßen, an Kreuzungen oder an Bushaltestellen in die Luft und reißen Israelis mit sich in den Tod. Israel beantwortet diesen Schrecken mit Panzern und Granaten, und setzt so Schrecken gegen Schrecken. Selbst einem amerikanischen Außenminister gelingt es nicht, die sich hassenden Parteien zu Kompromissen zu bewegen, damit zumindest wieder ein Waffenstillstand möglich wird. Unsere "politische Klasse" reagiert hilflos mit immer neuen Friedensvorschlägen und muss die Erfahrung machen, dass in diesem Konflikt alle "vernünftigen" Argumente, auf die man doch so hoffnungsvoll setzt, wie schillernde Seifenblasen zerplatzen. Eine unheimliche Irrationalität, eine schier unfassbare Unvernünftigkeit droht den gesamten vorderen Orient in Krieg und Verderben hinabzuziehen; und wir werden – trotz aller Vermittlungsversuche – so oder so in dieses Verhängnis mit hineingerissen. Langsam macht sich hierzulande sogar eine anti-amerikanische Stimmung breit, da man den Amerikanern die Schuld an dieser "Lage" gibt – ohne die tieferen geistigen Ursachen zu analysieren.

Seit etwa einem Jahrzehnt beschwört die sog. "Weltöffentlichkeit" den "Friedensprozess" zwischen Israelis und Palästinensern. Schon dieser Begriff eines "Prozesses" ist irreführend, weil er voraussetzt, dass Frieden zwischen beiden Seiten im Grunde schon vorhanden sei – beide Kontrahenten versichern ja unermüdlich, dass sie "Frieden" wollten. Doch schon das Verständnis von Frieden ist hüben und drüben kontrovers!

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Vor allem geht man bei einem solchen "Prozess" von einem "vernünftigen" Voranschreiten aus, das uns dem gewünschten Ziel Schritt für Schritt näher bis zur endlichen Verwirklichung des Friedens bringt. Genährt wird diese Sicht von einem humanistischen Optimismus in den guten, in den Vernunft begabten Menschen (homo sapiens), was Juden und Moslems, aber gerade auch der neuzeitliche demokratische Mensch beanspruchen zu sein.

Plötzlich aber wird offenbar, dass dieser Optimismus, vom "Menschen guten Willens" geprägt, äußerst trügerisch ist und nicht so weit trägt wie erhofft.1

Die um sich greifende Ratlosigkeit tobt sich bezeichnenderweise in gegenseitigen Schuldzuweisungen aus: Die Moslems sehen in Israel den Feind (und in allen Staaten, die Israel unterstützen). Die Israelis dagegen sehen in der "Intransigenz", im Starrsinn eines Arafat und seiner Palästinenser den Hauptgrund vom Scheitern des "Friedensprozesses".

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Bei uns in Deutschland äußert sich die allgemeine Ratlosigkeit in besonderen Sympathien für Arafat und die unterdrückten Palästinenser und einer immer harscher werdenden Kritik an dem militärischen Vorgehen des israelischen Ministerpräsidenten. Jede Seite wartet mit neuen Vorwürfen an die andere Seite auf und versucht so das eigene Verhalten zu rechtfertigen – und wir nehmen dieses Pro und Kontra auf und verfallen demselben Schema von Anklage und Gegenklage. Dabei ist zu beobachten, wie das bisherige Verständnis für Israel – bedingt durch unsere deutsche Vergangenheit – langsam in eine stille, aber nachhaltige Israelfeindschaft umschlägt. Philosemitismus schlägt leicht in Antisemitismus um!

Doch kaum jemand fragt nach den tieferen Gründen, die zu dieser Ratlosigkeit geführt haben. Der Schlüssel zu diesem so ratlos machenden Gegensatz zwischen Juden und Moslems liegt verborgen in der weithin ausgeklammerten und deshalb vergessenen Theologie; genauer gesagt in der Christusbotschaft des Neuen Testamentes, einer Botschaft, deren der aufgeklärte Zeitgenosse meint nicht mehr zu bedürfen.

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II.

Das Johannes-Evangelium überliefert uns das Ereignis einer Begegnung Jesu mit einer Samariterin am Jakobsbrunnen in Sichar (Joh. 4, 4-26). Bei dieser Begegnung zwischen dem Nazarener Jesus und jener samaritischen Frau stoßen zwei gegensätzliche religiöse Welten aufeinander, vergleichbar dem Widereinander von jüdischer und moslemischer Tradition. Beide, Juden und Moslems, berufen sich auf Abraham, den Stammvater eines Ismael, von dem die Araber ihre Herkunft ableiten (Gen. 16), während das jüdische Volk sein Dasein von Isaak ableitet, dem Sohn Saras, der legitimen Ehefrau Abrahams (Gen. 17). Gerade die gemeinsame Abrahamskindschaft beider Völker wird zum bis heute nachklingenden und nicht seltenen Bruderzwist zwischen nahe verwandten und doch so verschiedenen Völkern; denn nicht Ismael, der Sohn der Magd Hagar, empfängt den Segen, sondern Isaak, der Sohn der Freien (Gal. 4, 21-31)!

Dieser Gegensatz pflanzt sich zwischen Esau und Jakob fort (Gen. 27) und wird in den Anfängen des "Propheten" Mohammed erneut akut, der mit den Juden von Medina tödlich zusammenprallt, weil die Juden seine Prophetie nicht – wie er gehofft hatte – anerkennen. Bis in die Gegenwart hinein setzt sich dieser uralte Antagonismus fort, ein Geschehen, das der moderne säkularisierte Mensch nicht mehr nachvollziehen kann, sondern dafür lieber einem liberalen, "vernünftigen" Optimismus huldigt.

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Auch zwischen Jesus und jener Samariterin am Jakobsbrunnen schwingt dieser Gegensatz und jenes uralte Vorurteil in ihrem Gespräch immer noch mit. Als Er sie am Brunnen um Wasser bittet, fragt die Frau befremdet: "Wie bittest Du von mir zu trinken, so du Jude bist" und Johannes fügt erklärend hinzu: "Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern." (Joh. 4,9) Die Samariter waren in ihrer Gottesverehrung an ihren Tempel auf dem naheliegenden Berg Garizim gebunden2. Zwar wurde der Tempel auf dem Garizim 128 v. Chr. durch die Makkabäer zerstört. Gleichwohl war jener Garizim der Ort, an dem sich die samaritanische Frömmigkeit gebunden wusste, während für die Juden Tempel und Tempelberg in Jerusalem der Ort der legitimen Gottesverehrung war. Bis heute erinnern betende Juden an der sog. Klagemauer in Jerusalem an diese Bindung, während jene Samariterin noch einmal den bis heute noch gültigen Gegensatz genau charakterisiert: "Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, zu Jerusalem sei die Stätte, da man anbeten solle" (Joh. 4,20). Juden und Samariter berufen sich dabei auf "geheiligte" Vätertraditionen als auf ein göttliches Gesetz, ein Vorgang, der sich später zwischen Juden und Moslems wiederholt. Für den Juden ranken sich um den Zion und um den Tempelberg alle Sehnsüchte nach Erlösung, während die Moslems Jerusalem in tief frommer Weise einfach "El Kuds" nennen, die Heilige, weil Mohammed hier in den Himmel entrückt worden sei. Wieder begegnen wir hier und dort einer an Orte gebundenen und damit gesetzesorientierten Religiosität.

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Jesus jedoch gibt eine Antwort, die die ganze Religionsgeschichte weltweit und grundlegend verändern wird: "Weib glaube mir, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge (d.h. dem Garizim) noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. Ihr wisset nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden" (V. 22). Alle bisherigen Religionen sind im Grund Naturreligionen, gebunden an die Verehrung der Naturkräfte oder der leiblich-geistigen Kräfte der Menschen. Die wahre Religion dagegen ist geschichtlich! Sie erwächst aus den Worten und Verheißungen an die Väter, an Noah und Abraham. Deshalb die lapidare Feststellung: "Das Heil kommt von den Juden!" Man würde dieses Wort gründlich verfehlen, wollte man es heidnisch-naturreligiös oder gar nationalistisch verstehen. Es weist vielmehr hin auf den einen, wahren Gott, der in der Geschichte Menschen herausgerufen hat aus allen "natürlichen" und nationalen Bindungen: "Und der HERR sprach zu Abraham: Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will" (1. Mose 12,1). Unter diesem Ruf in der Geschichte zerreißen alle Blutsbande. Der rechte Glaube ist unterwegs zu einem künftigen Ziel. Er ist nicht mehr an Nation, Rasse oder an einen festen Ort gebunden. Es entsteht das "wandernde Gottesvolk", von dem der Hebräerbrief kündet; "ein Volk unterwegs zur ewigen Gottesstadt" (Hebr. 10,19ff). Es geht also nicht mehr um einen israelischen (National)Staat, auch nicht um das "Heilige Land", um das man sich gestritten hat und immer noch streitet. Es geht um die "Gemeinde Gottes", um seine Kirche (nicht als Institution verstanden), die von Gottes Wort und Ruf herausgelöst wird aus allen natürlichen, aus allen nationalen, aus allen gesetzlichen Bindungen (wie Sitte, väterliche Überlieferungen oder gesellschaftliche Vorschriften) hinwandert zur letzten Ruhe in und bei Gott (Hebr. 4.1ff, gr. "katapausis"). Erst dann ist die Weltgeschichte mit ihrem Unfrieden, ihrem Widereinander an ihrem von Gott bestimmten Ende.

Das erwähnte Gespräch Jesu mit der Samariterin gipfelt deshalb in dem entscheidenden Satz: "Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, dass die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit, denn der Vater will haben, die ihn also anbeten. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten" (V. 23f).

Die Wendung "und ist schon jetzt" zeigt an, dass mit dem Kommen Christi das "Jetzt", der Kairos, der Anbruch des Reiches Gottes schon da ist. Bis zu Christi Kommen waren Ort und Zeit, waren Gesetze, Vorschriften, Speisegebote und =verbote jeweils nur Vorspiele, nur Vorbild und Schatten der himmlischen Güter (Hebr. 8,5). Ebenso war das Gesetz nur "Schatten der künftigen Güter" (Hebr. 10,1). "Geist und Wahrheit" sind mit dem Kommen Christi in die Welt gegeben. Der auf dem Weg nach Golgatha wandernde Christus ist selbst der Geist, ist selbst die Wahrheit und damit auch das Leben (Joh. 14,6; Hebr. 10,20).



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Der Geist ist also alles andere als ein abstraktes Gedankengebilde, ist mehr als Wissen, mehr als verstandesmäßiges Erkennen. Der Geist ereignet sich in und mit dem Kommen Christi. "Geist" geschieht da, wo Er der Samariterin und uns allen unser verfehltes Leben aufdeckt und Er uns - kraft seines vergebenden und freisprechenden Wortes - zurückruft in die letzte Gottesgemeinschaft, die ewiges Leben ist.

Der Gekreuzigte und Auferstandene ist in seinem Da-Sein für uns "Geist und Wahrheit". Die Schatten können weichen, alle Orte der Anbetung – sei es in Jerusalem, sei es auf dem Garizim oder gar in Mekka – sind außer Kraft gesetzt. Der Tempel kann abgebrochen werden. Der "Tempel seines Leibes" als auferstandener Leib, der Sünde, Tod und Hölle in seiner Auferstehung in sich hineinverschlungen hat, macht alle anderen Orte und Tempel zu "Vor-läufern", zu Schatten, die mit Ihm vergangen und überflüssig geworden sind! (vgl. Joh. 2, 18-21) Auch hier gilt: "Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! (2. Kor. 5,17) "Denn der Herr ist der Geist!" (2. Kor. 3,17).

Damit aber ist das Problem, ob auf dem Jerusalemer Tempelberg, ob auf dem Garizim oder bei dem Umzug um die Kaaba in Mekka Gott angebetet werden muss, nicht nur gegenstandslos geworden, sondern es ist sogar falsch gestellt. Christus hat uns von jenem Entweder-Oder für immer frei gemacht!

Tempel, heiliger Orte, heiliger Zeiten und Verdienste bedarf es nicht mehr. Es bleibt seine vergebende Wahrheit, in die hinein wir uns retten dürfen. Darin besteht die grundsätzliche Andersartigkeit der biblisch-evangelischen Botschaft. Das kennt keine andere Religion, weder das Judentum, noch der Islam, weder Hinduismus noch Buddhismus oder animistische und Naturreligionen, mag es auch noch so viele "spirituelle" Gemeinsamkeiten geben, wie etwa die Berufung auf Abraham oder tiefgehende Frömmigkeiten oder gar dichterisch großartig formulierte Gebete. Diese "Spiritualität" hat mit der Anbetung des Vaters im Geist und in der Wahrheit nichts zu tun. Mit Christus ist das "Ganz Andere" in die Weltgeschichte eingetreten.

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III.

Es gehört nun zur religiösen Eigenart von Juden und Moslems, dass beide Glaubensweisen den gekreuzigten Christus leidenschaftlich ablehnen. Der Gekreuzigte ist ihnen – wie allen "natürlichen" Menschen - Anstoß und Ärgernis (skandalon u. moria; 1. Kor. 1,23)!

In seiner Auseinandersetzung mit seinen judaistischen Kritikern nimmt Paulus deren entscheidendes Argument auf: "Verflucht ist jedermann, der am Holz hängt" (Gal. 3, 13b; 1. Mose 21,23).



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Wie kann ein so Verfluchter der Messias, der Gesalbte Gottes oder gar Gottes Sohn sein? Unserer Vernunft ist das "undenkbar". Daran stößt sie sich. Das schlägt dem Bild vom guten, gnädigen oder "lieben" Gott glatt ins Gesicht. Das kann, ja darf nicht sein. Bis heute weigert sich der fromme Jude deshalb, den gekreuzigten Nazarener als Messias und Erlöser anzuerkennen. Noch immer wartet das Judentum auf den kommenden Messias, der Israel in seiner Größe wiederaufrichten wird. Deshalb betet man inständig und in beschämender Treue an der Ruinenmauer des einstigen Tempels, der 70 nach Christus zerstört wurde. Noch immer hofft man auf den Messias, der den Tempel in aller Herrlichkeit erneuern wird.

Der Apostel Paulus dagegen bestreitet nicht, dass der gekreuzigte Jesus zum "Fluch" geworden ist. Doch er sieht den Fluchtod Jesu gerade nicht als Beweis seines Scheiterns an, sondern gerade als Bestätigung des Heilswerkes Christi; denn er ward "ein Fluch für uns" (Gal. 3,13). Sein Leiden am Kreuz ist also eine "satisfactio vicaria", eine stellvertretende Genugtuung. Ein für gewisse "moderne Theologien ebenfalls anstößiger Gesichtspunkt. Christus wird für mich und dich verworfen und verflucht, weil er an unserer Stelle am Kreuz hängt, weil Er an unserer Stelle verflucht wird. Der Fluch, der mich und Dich treffen sollte, das ewige Gericht, dem wir alle verfallen sind, das wird an Ihm vollstreckt und nicht an mir und dir. Deshalb "hat er uns erlöst vom Fluch des Gesetzes" (Gal. 3, 13a). Deshalb braucht uns das Gesetz nicht mehr anzuklagen; "denn Christus ist des Gesetzes Ende, wer an den glaubt, der ist gerecht!" (Rö. 10,4)

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Vor Gott gerecht werden wir nicht mehr durch Beachtung von Speisegeboten, noch durch die Juden und Moslems gemeinsame Beschneidung, noch durch das Einhalten "bestimmter Feiertage oder Neumonde oder Sabbate" (Kol. 2,16f). Das alles sind nur "schwache und dürftige Satzungen" (Gal. 4,9, gr. stoicheia tou kosmou), die uns nicht mehr gefangennehmen dürfen. Vor diesem Rückfall warnt uns Paulus eindringlich. Ihm ist bewusst, wie entschieden sich sein Volk gegen seinen eigenen Messias verschworen und den gekreuzigten Christus verworfen hat. Das aber hat weittragende Folgen. Nicht nur, dass sie gefangen bleiben in den "Stoicheia", in den erwähnten "dürftigen und schwachen Satzungen", nicht nur, dass sie ihre Identität an den Tempelmauern Jerusalems festzumachen versuchen, sondern dass sie die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, verfehlen. Sie haben zwar "dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgetrachtet", doch sie haben "das Gesetz der Gerechtigkeit nicht erreicht. Warum das? Darum, dass sie es nicht aus dem Glauben, sondern als aus den Werken des Gesetzes suchen. Denn sie haben sich gestoßen an dem Stein des Anstoßes", d.h. an Christus! (Rö. 9, 31-33)

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Mit Entschiedenheit und mit großem Ernst betont der Apostel, dass sich an Christus selbst die Geister scheiden. Er, "Christus", ist das Ende des Gesetzes, wer an den glaubt, der ist gerecht" (Rö. 10,4). Die Zugehörigkeit zum Volke Gottes ist identisch mit der Glaubensgerechtigkeit im Vertrauen auf den Gekreuzigten! Deshalb ist auch kein Unterschied mehr zwischen Juden und Griechen, d.h. Nichtjuden. Bis zum Kommen Christi war das Gesetz die Scheide-linie zwischen Israel, dem Volk Gottes, und den heidnischen Völkern. Da Er aber am Kreuz das Gesetz erfüllt und zu seinem Ende gebracht hat, ist Christus selbst "ein Herr, reich über alle, die ihn anrufen. Denn wer den Namen des Herrn wird anrufen, soll selig werden" (Rö. 10, 12-13).

Die Zugehörigkeit zum Volk Gottes entscheidet sich nun nicht mehr an der leiblichen Abkunft von Abrahams Same, sondern zu Gottes Volk gehören hinfort alle, die den Namen Christi anrufen, seien sie von Geburt her Juden oder blutsmäßig aus der Völkerwelt. Christus hat aus Juden und Heiden Eines gemacht. Er hat den trennenden Zaun des Gesetzes abgebrochen. Aus Juden und Heiden hat er einen neuen Menschen geschaffen. Im Glauben an Seine Heilstat schafft er das neue Volk Gottes, das Israel "rechter Art der aus dem Geist gezeugt ward" (Luther: Aus tiefer Not schrei ich zu dir ..., Strophe 3). Siehe dazu vor allem Eph. 2, 11-16!

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Durch Christi Opfertod vollzieht sich innerhalb des historischen Israel eine fundamentale Scheidung. Es wiederholt sich das, was zur Zeit des Propheten Elia geschah, noch einmal. Mitten im Abfall zum Kanaaneischen Götzendienst heißt Gottes Antwort: "Ich habe mir lassen überbleiben 7000 Mann, die nicht haben ihre Knie gebeugt vor dem Baal. Also geht`s auch jetzt zu dieser Zeit mit diesen, die übrig geblieben sind nach der Wahl der Gnade" (Rö. 11, 4-5). Übrig geblieben ist der Jude Paulus, die aus dem Judentum stammenden Apostel wie Petrus, Johannes, Jakobus und alle Judenchristen. Sie sind die Zweige am Ölbaum, die nicht ausgebrochen sind. Gott hat sein Volk also nicht verstoßen (Rö. 11,2). Aber innerhalb des Volkes vollzieht sich wie einst zu Elias Zeiten eine Scheidung zwischen Glauben und Unglauben. Aus der Heidenwelt aber werden die in den Ölbaum der Erwählung Abrahams eingepfropft, die im Glauben an Christus gerecht geworden sind. Der Unglaube scheidet von Gott; die Verwerfung Christi ist Gericht! Der Glaube aber bewirkt die Zugehörigkeit zu Abrahams Same. Der Glaube pfropft ein! Der Glaube an Christus macht Gottes Volk!

Im Blick auf das irdisch-geschichtliche Israel bleibt freilich eine Hoffnung: Gott kann auch die durch die Verwerfung Christi ausgebrochenen Zweige wieder einpflanzen, so wie er ungläubig gewordene "Christen" auch wieder abhauen kann. Der überkommene rechte Glaube ist keine Heilsgarantie. Der Unglaube verspielt wieder alles (Rö. 11, 28-32). Das ist zugleich eine ernste Mahnung an die christliche Gemeinde. Es ist Gottes Erbarmen, dass die Kirche zu Gottes Volk gerechnet wird. Sein Erbarmen kann aber auch die wieder einpflanzen, die jetzt noch im Unglauben verharren. Beide, Juden und Heiden, hat Gott unter dem Unglauben eingeschlossen, damit beide aus Glauben leben und ER sich aller, den Glaubenden aus Juden und Heiden, erbarme (Rö. 11, 32)!

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IV.

Es ist menschlich und im gewissen Sinne auch politisch verständlich, dass sich das jüdische Volk auf Palästina als angestammte Heimat beruft und den seit 1948 dort entstandenen Staat Israel als ihr von der UNO anerkanntes legitimes Staatswesen ansieht. Ob diese Ansprüche auch als von Gott verheißenes Land angesehen werden müssen, bedarf der näheren Überprüfung. Evangelikale Kreise – sowohl in den USA als auch hier bei uns – berufen sich dabei u.a. auf den Propheten Hesekiel, der als Exulant in Babylon lebte und etwa um 593 vor Christus zum Propheten berufen wurde. Sein Buch beginnt mit der Vision der göttlichen Herrlichkeit, repräsentiert durch die vier Cherubin und dem vierrädrigen, feurigen Wagen, dessen Räder ohne sich umzuwenden allgegenwärtig sind (Hes. 1, 4-23; Hes. 10, 1ff; vgl. auch Jes. 6, 1-4). Gottes Gegenwart ist nicht an Orte, auch nicht an Jerusalem, gebunden. Die Feuerwagen sollen die Herrlichkeit des HERRN symbolisieren, die in alle Lande ausgeht, so dass die "kabod", die Herrlichkeit Jahwes alle Lande erfüllt (vgl. auch Jes. 6,3). Jesaias und Hesekiels Gesichte weisen hier schon auf die Gegenwart und Hoheit Jesu Christi hin, in dem "die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt" (Kol. 1,9).

Zunächst geißelt Hesekiel die Treulosigkeit der noch in Jerusalem Zurückgebliebenen, prangert deren "Greuel und Scheuel" (Hes. 8), ihren Götzendienst an, und kündet noch härter als Jeremia den Untergang Jerusalems und des Tempels an. Die "kabod Jahwe", die Herrlichkeit des Herrn verlässt die Stadt (Hes. 11, 22ff). Nach der endgültigen Katastrophe von Stadt und Land hat der Prophet dann die Aufgabe, die Exilierten zu trösten und wiederaufzurichten.

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Die folgenden Kapitel haben – in großen Zügen – zwei verschiedene Tendenzen. Zunächst wird den Verbannten zugesagt, dass Gott ihre Gefangenschaft beenden werde und sie wieder ins Land der Väter heimkehren können. Diese Ansage ist unter dem Perserkönig Cyrus oder Kores im Jahre 538 v. Chr. in dem Wiederaufbau dem Tempels zwischen 520 und 515 v. Chr. verwirklicht worden. Die prophetischen Weissagungen eines Hesekiel sind also längst erfüllt! Aus ihnen heute eine erneute Landverheißung und eine zweite oder dritte Rückkehr des Volkes nach Palästina herausdeuten zu wollen, ist anachronistisch, weil man so den Wandel der Geschichte und vor allem den Zeitenwechsel vor und nach Christi Geburt nicht beachtet. Der vor Christus verkündigende Prophet macht selbst deutlich, dass Gott selbst eine andere, eine neue Zeit heraufführen wird. Gott verheißt nämlich – nach Hesekiels Verkündigung – dass Gott im Lande einen neuen Bund machen will, dass sie nicht mehr zwei Völker sein werden (Juda und Israel), sondern ein Volk mit einem König, dass es keinen Götzendienst mehr geben wird, sondern dass die Götzen und die Greuel abgetan sein werden (Hes. 37, 21-23). Vielmehr soll der "Knecht David" ihr einziger König und ihr "einiger Hirte" sein (Hes. 37, 24) und sie nach Gottes Weisungen "wandeln" werden. Dieser neue Bund ist nicht mehr die Fortsetzung des alten Bundes, sondern Gott der Herr will ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken, wie es Jeremia, der Zeitgenosse des Hesekiel verkündet hat (Jer. 31, 31-34)!

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Auch diese Verheißungen sind erfüllt! Das in alle Welt zerstreute Volk konnte sich wieder um den Tempel sammeln und der neue Bund wurde mit dem Kommen Christi aufgerichtet. "In der Nacht, da er verraten ward", stiftete Jesus das neue Testament, den neuen Bund in seinem dahingegebenen Leib und in seinem "für Viele" vergossenen Blut (Mtth. 26, 26-28; Mk. 14, 22-24; Luk. 22, 19-20; 1. Kor. 11, 23-25). Sehr bewusst nimmt Christus hier auf das Opferblut im Tempel Bezug. Er selbst ist das "Lamm Gottes", das der Welt Sünde trägt (Joh. 1, 29;36). Damit sind alle Opfer im Jerusalemer Tempel "überholt", d.h. aufgehoben und überflüssig geworden. Es bedarf keines Tempels und keines heiligen Ortes mehr, weder in Jerusalem noch in Mekka oder Rom. Gottes Gegenwart ereignet sich allenthalben, wo sein Wort verkündigt wird!

Im Widerspruch dazu scheint zu stehen, dass Hesekiel ausführlich den Bau eines neuen Tempels schaut (Kap. 40-48). Diese "Schlussvision" sprengt "alle Maße der früheren Visionen des Buches".3 Auch die "Zuordnung" dieses neuen Tempels "zu den realen topographischen Gegebenheiten auf dem Jerusalemer Tempelberg macht Schwierigkeiten".4

Die ganze visionäre Tempelanlage gestaltet sich nach den Maßzahlen 25 und 50. Offensichtlich wird damit auf das in 3. Mose 25, 8ff erwähnte "Jobeljahr" als "Jahr der Freilassung" und "Jahr des Wohlgefallens" angespielt.5

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Das aber erschöpft sich nicht in der Freilassung durch den Perserkönig Cyrus, es weist hin auf eine eschatologische Zukunft. Aber genau diese "Endzeit" ist mit dem Kommen Christi angebrochen. "So ich aber durch Gottes Finger die Teufel austreibe", hält Jesus den Pharisäern entgegen, "so kommt ja das Reich Gottes zu euch" (Luk. 11,20). Auch ist Christus gekommen, "das angenehme Jahr des Herrn" (Luk. 4,19) zu verkündigen. Was die hesekiel`sche Tempelvision vorausschaut, ist in IHM, in Jesus von Nazareth, dem David-Sohn erfüllt. Mit Christus beginnt das "end-gültige" "Jobel"= oder "Jahr der Freilassung"! Christus bringt und vollzieht "den Gefangenen, dass sie los sein sollen ... und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen und zu verkündigen das angenehme Jahr des Herrn". Den neugierigen und zweifelnden Zuhörern in der Synagoge von Nazareth ruft er zu: "Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren" (Luk. 4, 18-21). "Heute!" Im Hören seiner Botschaft! Heute, da Er Gottes Name unter Juden und Heiden verkündigen lässt! Die Endzeit braucht nicht berechnet zu werden Sie ist mit seiner Kreuzigung und seiner Auferstehung bereits angebrochen. Seitdem stürzt Jahrhundert um Jahrhundert die Zeit ihrem Ende entgegen.

Der Tempel, den Hesekiel schaut (Hes. 40-48), ist also weder der unter Esra begonnene Tempelbau oder irgendein dritter irdischer Tempel, sondern Hesekiel schaut den ewigen Tempel Gottes, unter dessen Schwelle ein Wasserstrom entspringt, der von dort hinausfließt in die Welt (Hes. 47, 1ff). Schließlich ist das Wasser so tief, dass man es "nicht mehr gründen konnte" (Hes. 47,5). Es handelt sich also nicht um einen geographisch auszumachenden Fluss. Vielmehr erinnert diese prophetische Vision an jenen viergeteilten Paradiesesstrom im Garten Eden (1. Mose 2,10ff). Der Seher Johannes nimmt die hesekiel`sche Vision wieder auf in der endzeitlichen Schau des Lebensstromes, der "von dem Stuhl Gottes und des Lammes" ausgeht (Offbg. 21,1ff).

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Schließlich weist die Tempelvision des Propheten vorab auf den gekreuzigten und auferstandenen Leib Christi hin, den man zwar anklagte, er wolle den irdischen Tempel abbrechen und am dritten Tage wieder aufrichten. "Er aber redete vom Tempel seines Leibes" (Joh. 2,21)! Glaubloser Unverstand begreift nicht, dass der Tempel der Endzeit mit Christi Auferstehung bereits errichtet wurde, dass an diesem geistlichen Tempel weitergebaut wird, denn die Leiber der Glaubenden werden dem Tempel Christi in der Kraft des Heiligen Geistes eingefügt (1. Kor. 3,16; 6,12; 10,16; 12,13; Eph. 1,23; 2,21; Kol. 1,18, 24). Ähnliches gilt auch von der Prophetie des Hesekiel über eine neue Landverteilung (Hes. 45 u. 48).6 Der Prophet knüpft hier offensichtlich an den Bericht der Landverteilung unter Josua an, und doch handelt es sich nicht um eine historische Wiederholung jener Landnahme. Auch hier sprengen die angegebenen Maße alle geographischen Dimensionen. Die Stadt hat 12 Tore; eine Vision, die in der Johannes-Offenbarung wiederkehrt (Offbg. 21,12). Die Stadt heißt nicht mehr Jerusalem, sondern ihr Name ist "Hier ist der HERR" (Hes. 48, 35). "Dazu werden die Stämme und das Land Israel auch viel anders und weiter geteilt und geordnet, also, dass die Stadt und der Tempel in keinem Stamme Israel liegen soll". (Jerusalem lag im Gebiet des Stammes Benjamin.) 7

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass rabbinische und auch evangelikale Auslegungen, die die Visionen eines Hesekiel historisierend auf einen politischen Anspruch auf Jerusalem, auf den Zion und auf das Heilige Land nicht nur nicht dem Propheten gerecht werden, sondern auch den zeitlichen Wandel zwischen dem babylonischen Exil und unserer Gegenwart verkennen. Diese Auslegungen widersprechen den prophetischen Intentionen Hesekiels selbst und sie überspielen das einmalige und unüberholbare Geschehen des Adventes Christi in dieser Welt. Sein Kommen hat alle bisherigen Dimensionen gesprengt und die Geschichte grundlegend gewandelt. Aus prophetischer Schau auch heute noch berechtigte Ansprüche des jüdischen Volkes auf das einst den Vätern verheißene Land und auf Jerusalem ableiten zu wollen, übersieht, dass alle Prophetie in Christus erfüllt ist, heißt zurückfallen in die Zeit vor Christus, heißt immer noch jenen "gesetzlichen" Schatten und "Vor-Bildern" nachjagen, deren Schattenrisse durch Christi Kreuz an den Rand gedrängt worden sind. Oder soll sich auch an uns heute die Warnung des Propheten Jesaia bewahrheiten: "Der Herr hat euch einen Geist des harten Schlafes eingeschenkt und eure Augen zugetan!" (Jes. 29,10) Eine Warnung, die Paulus aufnimmt: "Ohne Christus hängt gleichsam eine verdunkelnde Decke vor unseren Herzen. Erst in der Bekehrung zu Christus wird uns die Decke abgetan" (2. Kor. 3, 12-16).

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V.

Im Blick auf den aus politischen Gründen geforderten "Dialog der Religionen" ist es üblich geworden, Judentum, Christentum und Islam als sog. "abrahamitische Religionsgemeinschafen" einander zuzuordnen. Getragen wird man dabei von der Hoffnung, dass zwischen diesen drei Religionen am ehesten eine friedliche Übereinkunft – unbeschadet der jeweilig eigenen Überzeugung – möglich sein müsse.

In der Tat überrascht es den Religionswissenschaftler nicht, wie viel gemeinsame historische Überlieferungen etwa in den Islam aufgenommen wurden. So betont etwa die 3. Sure des Koran: "Wir glauben an Gott ... und was auf Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und die Stämme (Israels)8 herabgesandt worden ist, und was Mose, Jesus und die Propheten von ihrem Herrn erhalten haben" (Sure 3,84). Der Koran nennt darüber hinaus eine Fülle alttestamentlicher Gestalten und Begebenheiten. So erscheint Adam im Paradies, konfrontiert mit dem Verbot vom Baum der Erkenntnis zu essen. Berichtet wird, wie Iblis (der Teufel) Adam zum Ungehorsam verleitete und Gott sich trotzdem als der "Gnädige und Barmherzige" Adam wieder zuwandte (Sure 2, 33-38). Gedacht wird der Errettung Israels aus der Hand des Pharao am Schilfmeer oder wie Mose am sog. Haderwasser aus einem Felsen mit seinem Stab Wasser herausschlägt; getadelt wird die frevelhafte Anbetung des Kalbes. Betont wird das Wachtel- u. Manna-Wunder und dass dem Volk am Sinai eine Gehorsamsverpflichtung gegeben wurde (Sure 2, 49-63). Ferner nennt der Koran die Erzengel Gabriel und Michael (Sure 2, 97ff). Erinnert wird an Saul, David und Goliath, an Salomo, ebenso an die Bundeslade (ebenso in der 2. Sure).

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Mit großer Wahrscheinlichkeit lernte Mohammed diese jüdischen Überlieferungen aus mittelbaren Erzählungen der Judenschaft kennen, denen er in Mekka und Jatrib und auf seinen Reisen als Kaufmann begegnete. Um so größer war seine Enttäuschung, als die dortige Judenschaft seine koranische Verkündigung ablehnte. Allmählich entsteht eine grundsätzliche Feindschaft zwischen den Juden und Mohammeds Gefolgsleuten. "Denjenigen, denen wir die Schrift gegeben haben (d.h. Juden und Christen) und die sie richtig lesen, glauben daran (an die koranischen "Offenbarungen"). Diejenigen aber, die nicht daran glauben, haben den Schaden" (Sure 2, 121). Die wachsende Entfremdung wird auch an der Änderung der Gebetsrichtung deutlich. Die Muslime sollen sich beim Gebet nicht mehr nach Jerusalem verneigen, sondern jetzt heißt es: "Und (wir sagten) macht euch aus dem (heiligen) Platz Abrahams eine Gebetsstätte!" (d.h. der Kaaba in Mekka). Und wir verpflichteten Abraham und Ismael: "Reinigt mein Haus für diejenigen, die die Umgangsprozession (um die Kaaba) machen und sich dem Kult hingeben, und die sich verneigen und niederwerfen" (Sure 2, 125). Mit dieser deutlichen Trennung vom Judentum wird zugleich die Gottesverehrung an einen anderen "heiligen Ort", an Mekka und an die Kaaba, gebunden. Die bisherige Gebetsrichtung (nach Jerusalem) wurde – so heißt es jetzt – "nur eingesetzt, um (die Leute auf die Probe zu stellen und) in Erfahrung zu bringen, wer dem Gesandten (d.h. Mohammed) folgt" (Sure 2, 143). Daraus wird gefolgert: "Wende dich mit dem Gesicht in Richtung der heiligen Kultstätte (in Mekka)! Und wo immer ihr (Gläubigen) seid, da wendet euch mit dem Gesicht in diese Richtung" (Sure 2, 144). Im Blick auf Juden und Christen wird tadelnd vermerkt: "Sie schließen sich nicht (einmal) untereinander der gleichen Gebetsrichtung an" (Sure 2, 145). Mohammed hat zwar bei der Begegnung mit Juden bemerkt, dass sich der Jude betend in Richtung Jerusalem wendet, Christen aber an keine Gebetsrichtung gebunden sind. Dass Christen nach den Worten Jesu, Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten, das hat Mohammed nicht verstanden, obwohl er in derselben Sure vermerkt: "Gott gehört der Osten und der Westen!" (2, 142) "Wohin ihr euch (beim Gebet) wenden möget, da habt ihr Gottes Antlitz vor euch" (Sure 2, 115). "Er umfasst (alles) und weiß Bescheid." Doch über allem steht der Befehl: "Und von wo (immer) du herkommst, da wende dich (beim Gebet) mit dem Gesicht in Richtung der heiligen Kultstätte (in Mekka)" (Sure 2, 149). Entschieden wird folglich auch jedwede Annäherung an Juden und Christen abgelehnt.

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"Und sie (d.h. die Leute der Schrift, Juden und Christen) sagen: Ihr müsst Juden oder Christen sein, dann seid ihr recht geleitet. Sag`: Nein! (Für uns gibt es nur) die Religion Abrahams, eines Hanifen – er war kein Heide (die Gott andere Götter) beigesellen!" (Sure 2, 136)

Stolz und selbstgewiss wird ein rational einsichtiger Monotheismus proklamiert:9 "Wir glauben an Gott und (an das), was (als Offenbarung) zu uns, und was zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen (Israels) herabgesandt worden ist, und was Mose und Jesus und die Propheten von ihrem Herrn erhalten haben, ohne dass wir bei einem von ihnen einen Unterschied machen. Ihm sind wir ergeben" (Sure 2, 136). Das Wort "ergeben" wird zum Grundwort des Islam. Diese Ergebenheit gilt nur dem einen Gott. Deshalb wird auch kein Unterschied zwischen den genannten Propheten (einschließlich Jesus) gemacht. Doch das vorangestellte "zu uns" gibt doch den "Offenbarungen" eines Mohammed den Vorrang vor allen anderen Propheten. Deshalb setzt die zweite Sure des Koran auch unmissverständlich mit den Worten ein: "Dies ist die Schrift, an der nicht zu zweifeln ist, (geoffenbart) als Rechtleitung für die Gottesfürchtigen" (2,1f). Die Ungläubigen aber "werden (einst) eine gewaltige Strafe zu erwarten haben" (2,7).

Zwar wird durch den ganzen Koran hindurch Gott als der barmherzige und gnädige Gott benannt, aber sein Erbarmen ist an die Unterwerfung unter den im Koran festgeschriebenen Gesetze gebunden. Reue und Umkehr (Buße) gibt es nur als Unterwerfung. Nie würde ein Moslem etwa wie der alttestamentliche Beter im 130. Psalm zu Gott rufen können: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme ... (und) bei Dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte ..." (Ps. 130, 1-4). Die Abrahamsgestalt im Koran widerspricht aufs Tiefste der alttestamentlichen Abrahamsgestalt. Der Abraham Mohammeds ist als "Hanif", als Gottgläubiger der Gesetzgeber, der die Muslime "recht leitet". "Wer hätte eine bessere Religion, als wer sich Gott ergibt und dabei rechtschaffen ist und der Religion Abrahams folgt, eines Hanifen."

Der mohammedanische Abraham weiß nichts von dem Abraham, dem Gott verheißen hat: "Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will ..." "Und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden" (1. Mose 12, 1-3). Und Abraham bricht auf ins Ungewisse, gehalten und getragen nur von dem Wort "Und sollst ein Segen" sein (1. Mose 12, 2b). Dieser Abraham ist kein Hanif, der sich Gesetzen unterwirft, sondern ein Vertrauender, der sich allein auf Gottes Zusage verlässt, der allein aus Vertrauen, aus Glauben lebt. "Abraham glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit" (1. Mose 15,6).

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Kein Geringerer als der einstige Jude Paulus nimmt diese alttestamentliche Sicht Abrahams auf (Rö. 4,3) und folgert: "Dem aber, der nicht mit Werken umgeht (wie uns Mohammeds Koran befiehlt), glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube (Vertrauen, fiducia) gerechnet zur Gerechtigkeit" (Rö. 4,5). "Selig ist (also) der Mann, welchem Gott die Sünden nicht zurechnet!" (Rö. 4,8) Ein für Mohammed unvorstellbarer Gedanke, dass Allah die Gottlosen gerecht macht. Der Koran kennt nur die Vernichtung der Gottlosen, nicht aber, dass Gott sich ihrer erbarmt und ihnen durch die Kraft seiner Vergebung die Sünde nicht zurechnet und so den Gottlosen vor dem ewigen Gericht bewahrt. Es ist deshalb kein Zufall, dass im Koran nirgends Gott als Vater angerufen wird. Ein "Vater unser" ist für den Islam undenkbar. Ganz folgerichtig entwirft der Koran auch ein völlig anderes Bild von Jesus von Nazareth. Auch hier lässt sich beobachten, dass Mohammed offensichtlich auch von Christen einiges "mündlich" über Christus gehört hat. "Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat und Geist von ihm" (Sure 4, 171).

Das bezeichnende "nur" stellt Jesus dem Propheten gleich; aber vehement wird bestritten, dass Jesus Christus der Sohn des Vaters ist. "Gott ist nur ein einziger Gott. Gepriesen sei er! (Er ist darüber erhaben) ein Kind zu haben. Ihm gehört (vielmehr alles), was im Himmel und auf der Erde ist ... Christus wird es nicht verschmähen, ein (bloßer) Diener Gottes zu sein" (Sure 4, 171f). Die Gottessohnschaft Jesu, die das ganze Neue Testament bezeugt, kann Mohammed nur als Anleihen bei heidnischer Vielgötterei begreifen. "Und als Gott sagte: Jesus, Sohn der Maria! Hast du (etwa) zu den Leuten gesagt: "Nehmt euch außer Gott mich und meine Mutter zu Göttern?" Er sagte: "Gepriesen seist du! (Wie dürfte man dir andere Wesen als Götter beigesellen?" "Ich darf nicht sagen, wozu ich kein Recht habe." (Sure 5, 116).

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Rationalem Denken ist es unfassbar, dass Gott nicht bei sich selber bleibt, sondern aus sich heraustritt und sich im Logos, im ewigen Wort manifestiert, ja dass dieses Wort Fleisch wird, sich hingibt in Not, Sünde und Tod, um den Gott entfremdeten Menschen zu retten. Auch Mohammed ist – wie alle natürlichen Menschen – diesem rationalen bzw. rationalistischen Denken verfallen. Deshalb wirft er den Christen vor, dass sie mit ihrer "Dreifaltigkeit" Gott andere Wesen "beigesellen", wie es die koranische Redeweise ausdrückt. Mohammed ordnet die Dreifaltigkeit Gottes heidnisch-vorchristlicher Vielgötterei zu. Offensichtlich hat man ihn im Hörensagen falsch unterrichtet, wenn er Gott, Christus und Maria als Ausdruck der christlichen Dreifaltigkeit darstellt (vgl. Sure 5, 116). Er verwechselt sie mit heidnischen Götterdreiheiten, zu denen regelmäßig auch eine Muttergottheit gezählt wird. Die Dreifaltigkeit Gottes besagt gerade das Gegenteil. Der in sich dreifaltige Gott ist nur der Eine, der sich aber in seiner Dreieinigkeit selbst als der Lebendige erweist! Eine numerische Eins wäre in seiner zahlenmäßigen Richtigkeit gerade in sich starr und damit zugleich auch tot. Ein solcher Gott als numerische Eins muss folgerichtig auch in Vorschriften, Gesetzen und Gebräuchen erfasst werden. Die Zahl Eins wiederholt sich für alle Zeiten immer wieder als die eine Eins, und das Leben wird in vielfachen Gesetzen der Eins unterworfen. Es ist also nur folgerichtig, dass der Islam wesenhaft eine Gesetzesreligion ist und der Koran – obwohl er Reste biblischer Geschichte enthält – vor allem ein Gesetzbuch ist. Die christliche Freiheit vom Gesetz ist dem Koran und ist dem Islam unbekannt. Mohammed hat – trotz aller Berührung mit christlichen Kreisen – nie verstanden, dass Jesus Christus des Gesetzes Ende ist (Rö. 10,4), gerade weil er der Sohn des Vaters ist. Mohammed hat sich wiederum in das knechtische Joch gefangen nehmen lassen (Gal. 5,1). Auch die von den Juden überkommene Beschneidung ist Teil dieser Gesetzlichkeit.

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Darüber hinaus ist Mohammed vor allem der "falsch berühmten Kunst" (1. Tim. 6,20) erlegen, die kirchengeschichtlich unter dem Namen der "Gnosis" von sich reden machte. Deutliche Einflüsse gnostischen Denkens finden sich gerade auch im Koran. So übernimmt Mohammed eine Erzählung aus dem ..... Thomas-Evangelium, dass Jesus aus Lehm etwas geschaffen habe, "was so aussieht wie Vögel, in die er hineinblase und "mit Gottes Erlaubnis" wirkliche Vögel wurden. "Mit Gottes Erlaubnis" heilte er Blinde und Aussätzige und machte Tote wieder lebendig (Sure 3,49). Doch das alles sind nur Zeichen, die Jesus nicht als Sohn Gottes erweisen, sondern ihn nur als großen Propheten beweisen.

Vor allem aber ist die Kreuzigung Jesu für Mohammed und den Koran – ebenso wie für Juden und Griechen (d.h. Heiden) – ein skandalon und moria, Ärgernis (Skandal) und Torheit (1. Kor. 1,23). Wiederum folgt der Koran einer gnostischen Sicht: "Sie haben ihn nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich ... Und diejenigen, die über ihm uneins sind, sind im Zweifel über ihn (oder darüber) gehen vielmehr Vermutungen nach. Und sie haben ihn nicht mit Gewissheit getötet ... Nein! Gott hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben (Sure 4, 157f.).

Diese angebliche Ungewissheit und die Behauptung, ein anderer sei für Jesus gekreuzigt worden, entspricht genau jener gnostischen Sicht, die entweder Christus einen Scheinleib andichtet, eine Kreuzigung also nur als Täuschung geschieht, oder man unterscheidet einen irdischen Leib von dem ihm innewohnenden Geistleib, der im Augenblick des Todes in die himmlischen Regionen aufsteigt, vom Tod also unberührt bleibt. Ähnliche Phantasien begegnen auch heute noch etwa in gewissen anthroposophischen Entwürfen. Die Tendenz zielt auf eine Entwertung der Kreuzigung, wie hier auch im Koran. Das Kreuz wird überflüssig. Ein Opfertod für den sündigen Menschen ist nicht nötig, da es um "Gnosis", um jene falschberühmte Kunst oder Erkenntnis geht, dass das eigentliche Sein des Menschen ewigen Ursprungs ist. Es gilt nur, zu erkennen, dass wir im Kern ein "Geistleib" sind. Erkenne, wer du eigentlich bist und alles Irdische fällt als unwesentlich von dir ab. Die Erlösung bedarf keines Opfers. Sie besteht in Selbstfindung.

Den Versuchen menschlicher Selbstfindung, d.h. Selbsterlösung, entspricht immer auch die Gesetzlichkeit. In der Befolgung von Gesetzen versucht man sich selbst zu finden. Die Gesetzesbefolgung macht selbstsicher und lässt den sich selbst finden wollenden Menschen sich über andere erheben. Man wirft sich zum Richter über andere auf und fühlt sich dazu berufen, auch das Urteil zu vollstrecken.

Von diesem Selbstfindungsprozess der "Wissenden", des Gnostikers und jedwedem Gesetzesgerechten her wird verständlich, warum der Koran den wissenden Muslimen befiehlt: "Nehmt euch nicht die Ungläubigen anstatt der Gläubigen zu Freunden!" (Sure 4, 144).

Sie könnten ja zum Abfall vom Islam verleiten. Doch "der Versuch (Gläubige vom Abfall vom Islam) zu verführen, wiegt schwerer als Töten" (Sure 2, 217). Folglich ist der Krieg gegen die Ungläubigen geboten. Eine Aufforderung, die im Koran immer wiederkehrt. Es sei hier nur als charakteristische Stelle Sure 2, 191 zitiert: "Und tötet sie (d.h. die heidnischen Gegner), wo (immer) ihr sie zu fassen bekommt ... und kämpft gegen sie, bis niemand (mehr) versucht, (Gläubige zum Abfall vom Islam) zu verführen, und bis nur noch Gott verehrt wird" (Sure 2, 193). Eindeutig wird hier eine politisch-religiöse Theokratie (Gottesherrschaft) proklamiert, der alle Welt sich zu unterwerfen hat.

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Hier wird deutlich, welch ein fundamentaler Unterschied zwischen Judentum und Christentum einerseits und dem Islam andererseits besteht.

Das Alte Testament kennt zwar die Völkerwallfahrt zum Zion, dass am Ende aller Tage die Schwerter zu Pflugscharen werden, aber das geschieht nicht durch Krieg und Unterwerfung (z.B. Jes. 2,1-4; Jes. 4, 1-6; Jes. 9, 1-6; Jes. 11, 1-9), sondern allein durch Gottes Kraft, Geist und Wort. Völlig undenkbar ist es, dass man um Christi willen das Schwert zieht (vgl. Jesu Wort an Petrus: "Stecke dein Schwert an seinen Ort ...", Matth. 26,52)! Im Gegenteil! Den Jüngern wird Feindschaft und Verfolgung verheißen! "Und ihr werdet gehasst sein von Jedermann um meines Namens willen" (Mk. 13, 13). Doch nirgendwo wird deshalb – wie im Koran – zum Glaubenskrieg aufgerufen, sondern "Ich aber sage euch" – so Christus in der Bergpredigt – "Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel ..." (Matth. 5, 44f.)

Der ungeheure Abstand zwischen Mohammed und Christus wird nirgends so deutlich wie hier. Während der moslemische "Prophet" in blutigen Schlachten die dortigen jüdischen Stämme vernichtend schlug und schließlich Mekka eroberte, lässt sich Christus widerstandslos gefangen nehmen. Selbst am Kreuz noch bittet er sterbend für seine Feinde: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" (Luk. 23, 34)

Nicht immer freilich hat die Christenheit diese Haltung Jesu im Verlaufe der Geschichte durchgehalten, sondern Kreuzzüge geführt, die bis heute von den Muslimen den Christen anklagend vorgehalten werden. Verdrängt wird dabei, dass moslemische Heere den vorderen Orient, ganz Nordafrika und Spanien erobert hatten, bis sie 1529 – also zur Lutherzeit – in Ungarn standen. Jene Kreuzzüge sollten zwar das "heilige Grab" in Jerusalem befreien - waren also religiös motiviert - , sie waren zugleich aber auch Abwehrreaktionen europäischer Nationen. Es war freilich ein fataler Irrtum, dies als "Kreuzzüge" zur Verteidigung des Christentums zu verstehen, ein Irrtum, der einerseits der moslemischen Idee des Djihad, des heiligen Krieges entlehnt wurde, andererseits aus dem mittelalterlichern Verdienstgedanken geboren wurde, man könne sich kämpfend das ewige Heil verdienen. Jene neutestamentliche Fundamentalunterscheidung, dass vor Gott kein Mensch durch des Gesetzes Werke gerecht werden könne – das Gesetz richtet nur und treibt zur Bußen -, sondern dass wir durch den Glauben an Christus gerecht würden (Gal. 3, 24; Rö. 3, 24).

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VI.

Es war der vielgeschmähte und in der evangelischen Christenheit oft vergessene und verleugnete Martin Luther, der die Christenheit wieder von dem Kreuzzugswahn befreit hat. Das besagt nicht, dass der Staat nicht die Pflicht habe, einem Angreifer und Eroberer zur Sicherung des Friedens zu widerstehen. Aber Luther unterscheidet hier zwischen dem "Christianus" und dem "Kaiser Carolus".

Das Amt des Christianus ist es nicht, mit dem Schwert zu kriegen, sondern "das Amt des Evangeliums" ist es – "den Menschen von den Sünden und von dem Tode zu erlösen, ja von dieser Welt zum ewigen Leben zu helfen". Bischöfe und Pfarrer sollen ihres Amtes "mit Beten, Fasten, Lesen, Predigen und armer Leute warten". Deshalb gebührt es keinem Papst, "ein Kirchenheer oder Christenheer zu führen" (das wäre gerade ein Rückfall in moslemische Gesetzlichkeit), "denn die Kirche soll nicht streiten, noch mit dem Schwert fechten; sie hat andere Feinde denn Fleisch und Blut, welche heißen die bösen Teufel in der Luft" (Eph. 6,12).

Anders ist die Lage, wenn der Staat als Wahrer des Friedens und des Rechtes seines Amtes walten muss, den Agressor einzudämmen und der Gewalt entgegen zu steuern. "Wenn Kaiser Carl Panier oder eines Fürsten zu Felde ist, da laufe ein jeglicher frisch und fröhlich (d.h. bereit zum Dienst) unter sein Panier, da er unter geschworen ist ... ; ists aber ein Bischof – Cardinal – oder Papstes Panier, so lauf davon und sprich: Ich kenne der Münze nicht ..."10

Durch diese Unterscheidung von "Christianus" und "Kaiser Carolus" ist eine folgenschwere Unterscheidung getroffen, die die Kreuzzüge, Glaubenskriege oder Djihads diskreditieren und somit den Krieg "versachlichen", ihn aller religiösen oder ideologischen Überhöhungen berauben. Der Krieg bleibt ein schreckliches "Handwerk", ja mit seiner mörderischen Seite gerade auch ein Gericht Gottes, das uns zu Glauben, Gebet und Buße führen soll. Das verpflichtet gerade jede Regierung, Frieden zu wahren und Ausgleich zu suchen. Niemals aber kann und darf der Streit ideologisch oder religiös aufgeladen und gerechtfertigt werden.

Im Blick auf den gegenwärtigen arabisch-israelischen Konflikt und im Blick auf moslemische Terroristen bedeutet das ein Mehrfaches:

Ernst Volk, Entworfen im Mai 2002


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1 Eine verhängnisvoll falsche Übersetzung der Weihnachtsverheißung von Luk. 2, 14; die die päpstlich-römische Vulgata bis heute aufrecht erhält. Sachgemäß heißt es "den Menschen ein Wohlgefallen", d.h. den Menschen, denen Gott sein Wohlgefallen schenkt, das nicht wir "guten Willens" verwirklichen!
2 Betr. Samariter: 2. Kö. 17, 29; Esra 4; 9.10
3 Walther Zimmerli: Ezechiel, Gestalt und Botschaft, Neukirchener Verlag 1971, S. 130
4 Zimmerli, s.o. S. 131
5 Zimmerli, ebenda S. 133
6 Zimmerli, ebenda S. 139
7 M. Luther: "Vorrede" und "Neue Vorrede auf den Propheten Hesekiel" in "Biblia Germanica", 1545; Faksimile-Ausgabe der Württembergischen Bibelanstalt, Stuttgart, 1967
8 Doch schon bei dieser Wendung "die Stämme" ist nicht deutlich, ob es sich tatsächlich um die 12 Stämme Israels handelt oder um die Stämme aus Ismaels Geschlecht (1. Mose 25,12), auf den sich die Araber berufen.
9 Wir werden sehen, dass die christliche Dreieinigkeitspredigt mit dem heidnischen Vielgötterglauben fast gleichgesetzt wird.
10 Martin Luther: Vom Krieg wider den Türken, 1528/1529, Walch`sche Lutherausgabe Bd. XX, Sp. 2108 - 2155


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