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Mensch von Anfang an!

Anmerkungen eines Theologen zur Bioethikdebatte
von Pfarrer Winfrid Krause, Thalfang

Die fast gleichzeitige Entzifferung des menschlichen Genoms durch das internationale "Human Genom Project"(HUGO) und die amerikanische Firma "Celera Genomics"(Craig Venter) im Sommer 2000 hat weltweit eine große bioethische Diskussion ausgelöst. Die mit der Genmanipulation von Pflanzen und Tieren verbundenen Fragen kehren hier zugespitzt wieder. Das reproduktive Klonen von Menschen anstelle der familiärem Fortpflanzung, Designerbabies von Samenbanken, Brutkastenschwangerschaften, Kinder nach Katalog, der Mensch als Dutzendware, das Arbeitsheer Millionen gleichgezüchteter, entmündigter "Homunkulusse", wie Goethe sie im "Faust" bereits sah, wird von allen Kulturen und Religionen der Welt, von UNESCO und Europarat, als der Menschenwürde widersprechend abgelehnt. Wie das Beispiel der eineiigen Zwillinge zeigt, ist der Mensch auch mehr als die Summe seiner Gene. Unsere Individualität bildet sich in einem lebenslangen Prozeß der Wechselwirkung von Erbanlagen, Erziehung, Umwelt, Erfahrungen und Entscheidungen heraus. Wenn 98,4% unseres Genoms mit dem des Schimpansen identisch sind, ist das Menschsein des Menschen weder genetisch determiniert noch biologistisch reduzierbar.

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Die medizinische Forschung hat schnell die neuen Möglichkeiten der Heilung von Erbkrankheiten erkannt. Die seltenen, ca.7.000 Mendelschen Krankheiten, die auf einem einzigen defekten Gen beruhen (Mukoviszidose, Chorea Huntington, Phenylketonurie u.a.), könnten vielleicht durch einen gezielten Eingriff in die Keimbahn aus der Welt geschafft werden. Bei den Volkskrankheiten Diabetes, Krebs, Alzeimer, Parkinson, Ostereoperose, Arteriosklerose, die auf eine genetische Disposition zurückgeführt werden, hängen Ausbruch und Verlauf neben dem Zusammenspiel vieler Gene noch von weiteren, z.T. unbekannten Faktoren ab. Ihre Gentherapie wäre hochkompliziert und wohl niemals ohne anderweitige Schäden durchführbar. Stattdessen könnten die Injektion oder Implantation von Stammzellen bzw. Ersatzgewebe hier Heilungschancen eröffnen. Da fremdes Gewebe jedoch von der körpereigenen Immunabwehr abgestoßen wird, will man - nach dem sog. Dolly-Verfahren - Embryonen mit dem Genom des jeweiligen Patienten klonen und als Stammzellenlieferanten nutzen. Das britische Unterhaus hat am 19.12.2000 das therapeutische Klonen von Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung übrigbleiben, freigegeben. Aber darf man eine befruchtete Eizelle, die sich zu einem Menschen entwickeln könnte, als Ersatzteillager oder Organspender ausschlachten? Der amerikanische Präsident Bush hat deshalb am 9.8.2001 nach reiflicher Überlegung entschieden, staatliche Fördermittel nur für die Forschung an schon getöteten, nicht aber für noch lebende Zygoten zu vergeben. Weltweit soll bereits an 10 verschiedenen Instituten mit 64 menschliche Zelllinien experimentiert werden.1 In Deutschland ist durch das Embryonenschutzgesetz von 1990 (ESchG) nicht nur das Klonen von Menschen und Eingreifen in die menschliche Keimbahn, sondern auch jegliche Erzeugung und Verwendung von Embryonen außer zum Zweck der Herbeiführung einer Schwangerschaft verboten. Dennoch soll es auch bei uns 71 tiefgefrorene, sog. "überzählige" Embryonen geben, die aus irgendeinem Grund nicht ihrer "Mutter" eingepflanzt werden konnten.2 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) empfahl am 11.5.2001, die Forschung an solchen überzähligen Embryonen für hochrangige Therapieziele freizugeben. In Politik und Öffentlichkeit ist seither ein lebhafter Streit um die Zulässigkeit solcher verbrauchender Embryonenforschung entbrannt. Heftig umstritten ist auch die pränatale Diagnostik von Embryonen im Mutterleib, die in mehr als 90% der Fälle, in denen ein Gendefekt festgestellt wird, zur Abtreibung führt, bei Down-Syndrom (Mongoloismus) sogar in 95%. Behinderte Kinder haben praktisch kein Lebensrecht mehr! Noch schlimmer wäre die - vom Embryonenschutzgesetz nicht erlaubte - Präimplantationsdiagnostik bei künstlich befruchteten Zygoten, die erst einen Gencheck bestehen müßten, bevor sie in den Mutterleib eingepflanzt würden, bzw. bei Nichtbestehen verworfen würden; nach Ansicht von Justizministerin Däubler-Gmelin "Selektion pur".

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II

Für die ethische Beurteilung dieser Embryonenexperimente ist die Frage grundlegend: Wann beginnt überhaupt menschliches Leben? Von welchem Zeitpunkt an kommt ihm menschliche Würde zu? Hier werden die verschiedensten biologischen Termine genannt:
  1. Die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, bei der ein neues, einmaliges, individuelles Genom entsteht.
  2. Das Acht-Zellen-Stadium, ab dem die bis dahin totipotenten Zellen, aus denen je ein vollständiger Mensch entstehen könnte (Mehrlinge), durch weitere Zellteilung in spezialisierte Körperzellen übergehen (Präembryo?).
  3. Die Nidation in die Gebärmutter, mit der nach ca.14 Tagen die Schwangerschaftssymbiose von Mutter und Kind einsetzt.
  4. Die Herausbildung einer erkennbaren menschlichen Gestalt aus dem Zellgewebe der Zygote in der 4.-6.Woche.
  5. Die Entwicklung von Nerven, Schmerzempfinden und Gehirn ab der 7.Woche ("70.Tag").
  6. Die ersten spürbaren Bewegungen des Fötus im Mutterleib in der 16.-18.Schwangerschaftswoche.
  7. Die Geburt, bei der das Kind aus dem Mutterleib in die Welt hinaustritt.
  8. Das Erwachen des spezifisch menschlichen Bewußtseins und Selbstbewußtseins, wenn das Kind im Alter von 2-3 Jahren das erste Mal "ich" sagt.


Gegenüber der alten, auf Aristoteles zurückgehenden Theorie der Sukzessivbeseelung des Embryos (1.vegetative, 2.sensitive, 3.rationale Seele), die zuletzt von namhaften Theologen wie Karl Rahner, Franz Böckle oder Richard Schröder vertreten wurde, hat die moderne embryologische Forschung gezeigt, daß sich das Kind im Mutterleib seit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle kontinuierlich entwickelt. Ein qualitativer Sprung, mit dem das Menschsein erst später einsetzen würde, ist nicht erkennbar. Eine spätere ethische Grenzziehung ist daher naturrechtlich nicht begründbar und willkürliche Setzung. "Der Mensch wird nicht Mensch, sondern ist Mensch. Er entwickelt sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch."3 Gerade das uns von den übrigen Lebewesen unterscheidende, spezifisch menschliche, geistige Vermögen ist bereits in dem individuellen menschlichen Genom angelegt. Unbeschadet seiner Angewiesenheit auf den nährenden und schützenden Mutterleib liegt hier "eine funktionelle, sich selbst organisierende und differenzierende Einheit", ein "dynamisches und autonomes 'System'"4, ein vollständig programmierter, sich selbst steuernder Lebensprozeß, eine genetische Identität, eine einzigartige, unersetzliche menschliche Existenz vor. Egal ob durch Zeugung, In-vitro-Fertilisation oder Klonierung entstanden, ist der Embryo naturwissenschaftlich betrachtet ein Exemplar der Gattung Mensch und als solcher von Anfang an als Mensch zu behandeln.

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III

Im Vorfeld politischer Entscheidungen und rechtlicher Regelungen werden ethische Fragen in unserer pluralistischen Gesellschaft von unterschiedlichen philosophischen, religiösen und weltanschaulichen Standpunkten her beantwortet. Es geht in der heutigen Bioethikdebatte jedoch nicht nur um Sachfragen sondern um Lebensfragen, ja um das Menschsein des Menschen selbst. Schon die Diskussion um die militärische und zivile Nutzung der Atomkraft hat gezeigt, daß der neuzeitliche Mensch nicht mehr alles tun darf, was er kann. Sind wir mit der Entschlüsselung unseres Erbguts nun in das "anthropotechnische Zeitalter" eingetreten? Hat unsere Vernunft das Vermögen, "das Spiel aktiv aufzugreifen" und "Regeln für den Menschenpark" bzw. einen "Codex der Anthropotechniken" aufzustellen, wie Peter Sloterdijk in seiner Elmauer Rede meinte?5 Oder gilt der skeptische Einwand Hans Blumenbergs6 "zu glauben, mit der Vernunft stünde es so, daß man ihr jederzeit aus Vernunft Einhalt gebieten könne", sei eine "Selbsttäuschung"? Wie weit dürfen hier in einer Güterabwägung Chancen und Risiken, Kosten und Nutzen, Vorteile und Nachteile gegeneinander aufgerechnet werden? Wo stehen absolute Werte auf dem Spiel und sind insofern unbedingte, kategorische Verbote auszusprechen und gesetzlich zu verankern? Die am größtmöglichen Nutzen aller Menschen orientierte utilitaristische Ethik7 wägt das Leben des Embryos gegen das Lebensinteresse Kranker ab, die durch embryonale Stammzellen geheilt werden könnten. Sofern das ungeborene Leben noch nicht über ein "aufgeklärtes Lebensinteresse" (Norbert Hoerster) oder bewußte "Selbstachtung"(Staatsminister Nida-Rümelin) verfüge, komme ihm weder Menschenwürde noch Lebensrecht zu. Zwischen "lebenswertem" und "lebensunwertem" Dasein wird nach den Kriterien von "Schmerz" und "Wohlbefinden" unterschieden. Selbst die Differenz von Mensch und Tier wird hier eingeebnet. Das Leben eines gesunden Schimpansen gilt als wertvoller als das eines geistesgestörten Menschen. Wer wie der Embryo oder der Demente noch nicht oder nicht mehr über ein menschliches Bewußtsein zu verfügen scheint, bekommt das Menschsein aberkannt. Ob Komapatienten oder Schlafende, die kein aktuelles Bewußtsein haben, noch ein Lebensrecht genießen, ist fraglich. Wie die Euthanasiedebatte zeigt, kann die utilitaristische Ethik jedenfalls keinen unbedingten Schutz des menschlichen Lebens begründen. Trotz aller Beschwörung des geistigen Wesens des Menschen ist ihr Grundansatz materialistisch und mündet in das nackte "Recht des Stärkeren", der seinen Lebenswillen auf Kosten des Schwächeren rücksichtslos durchsetzt. Das ethische Dilemma zwischen "gutem" Heilen Kranker und "bösem" Töten Ungeborener kann jedenfalls nicht so einfach aufgelöst werden. Sowenig es ein Recht auf ein gesundes Kind gibt, sowenig einen Anspruch auf Heilung um jeden Preis. Darf man um vager, zukünftiger Heilungschancen willen heute einen Embryo, der sich zu einem normalen Menschen entwickeln würde, opfern? Jens Reich hat zurecht bemerkt: "Ich kann einen andern nicht heilen auf Kosten eines andern."8

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In ähnliche Schwierigkeiten führt das "gradualistische Modell" einer "abgestuften Schutzwürdigkeit" des ungeborenen Lebens, wie Andreas Beyer es am 18.3.2001 vor dem Lutherischen Konvent im Rheinland vertreten hat.9 Dieser der Theorie der Sukzessivbeseelung verwandte Ansatz will dem Embryo in dem Maße, wie er "im Laufe seiner Entwicklung langsam und Stück für Stück Humanitas gewinnt", zunehmend Lebensrecht und Menschenwürde zuerkennen. Die Zäsuren der "Menschwerdung" werden in der kontinuierlichen Entwicklung allerdings willkürlich gesetzt. In seinem biologistischen Reduktionismus übersieht dieses Modell, daß das Menschsein nicht auf augenblickliche, sichtbare, meßbare Zustände verengt werden darf, sondern als Leib-Seele-Einheit immer eine sichtbare und eine unsichtbare Seite hat. Aus der Tatsache, daß ein Embryo sich noch nicht und ein Dementer sich nicht mehr äußern kann, kann und darf nicht auf das Nichtvorhandensein seiner Seele bzw. seines spezifisch menschlichen Empfindens geschlossen werden. Zwischen sichtbarer Gestalt und unsichtbarem Wesen des Menschen ist vielmehr stets, gerade bei einer Zygote und einem Sterbenden, zu unterscheiden, und doch gehören beide aufgrund der psychosomatischen Einheit unserer Existenz untrennbar zusammen. Weil wir Menschen nicht nur Natur, sondern auch Geschichte haben, kann unser Dasein nicht punktuell-statisch erfaßt, sondern muß dynamisch-geschichtlich, in seiner zeitlichen Erstreckung gesehen werden. Der Mensch ist nicht nur im Mutterleib, sondern von Anfang bis Ende, von der Zeugung bis zum Tod, immer "im Werden", hat insofern nicht nur Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und Zukunft, nicht nur Aktualität, sondern auch Potentialität und Historizität. Wie immer man über den Wert oder Unwert einer bestimmten Lebensphase denken mag, als Menschen haben wir, auch als Ungeborene und Sterbende, eine Würde, die uns von anderen Menschen nicht verliehen noch genommen werden kann. So wie man noch dem toten Leichnam, der einmal ein Mensch war, Pietät entgegenbringt, so hat bereits die befruchtete Eizelle, um der menschlichen Zukunft willen, die in ihr lebt, unbedingte Würde. Nur wenn diese Würde jedem Exemplar der Gattung Mensch, jedem Mitglied der Gesellschaft von Anfang bis Ende, uneingeschränkt gilt, nicht aufgrund bestimmter Zustände oder Leistungen, nicht aufgrund gesellschaftlicher Zuschreibung oder Definition, sondern von Natur aus, auch dem Behinderten, Kranken, Verbrecher, Sterbenden, jedem der menschliches Antlitz trägt, einen menschlichen Leib10 hat und über ein menschliches Genom verfügt, ist die Menschenwürde menschlicher Willkür entzogen und wirklich "unantastbar".

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Philosophisch ist diese Ethik der Menschenwürde am klarsten von Immanuel Kant formuliert worden. Als vernünftiges, freies, sich Zwecke setzendes, seinen Willen dem moralischen Gesetz unterwerfendes Wesen - "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne!"(kategorischer Imperativ)11 - existiert der Mensch "als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch"12. Würde ein noch so kleiner Mensch wie der Embryo nach der Keimzellenverschmelzung, womöglich nur zu diesem Zweck künstlich hergestellt, als Mittel zur Therapie anderer Menschen mißbraucht, würde seine Menschenwürde frevlerisch angetastet. Er würde zum Objekt degradiert, instrumentalisiert, verdinglicht, verbracht, getötet. Mit therapeutischem Klonen, verbrauchender Embryonenforschung und embryonaler Stammzellentherapie ist man, etwa in England, "bei der Herstellung derer, die nie geboren werden sollen, zur Erhaltung derer, die nie sterben wollen."13 Hier ist der Embryo nicht nur ein Versuchskaninchen, sondern wird in medizinischem Kannibalismus massenweise verbraucht und auf den Altären von Fortschritt und Gesundheit geopfert. In der Nachfolge Kants haben deshalb Reinhard Löw, Robert Spaemann und Gerold Prauss darauf insistiert, daß der Mensch "ganz natür- lich durch Vereinigung von Ei- und Samenzelle entsteht"14, daß "die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch das einzige zweifelsfreie Kriterium" des Menschseins ist15, daß der Embryo durch sein spezifisch menschliches Genom zur Menschheit gehört, daß ihm Lebensrecht und Menschenwürde insofern nicht erst von der Gesellschaft zuerkannt werden - dann könnten sie ihm auch aberkannt werden - , sondern von Natur her eigen sind und als soche von anderen Menschen anerkannt und respektiert werden müssen16. Angesichts der neuen Möglichkeiten gentechnischer Manipulation des Menschen fordert Rüdiger Safranski eine neue "Ehrfurcht vor dem Ungeheuren der Natur" sowie "ein Recht darauf, geboren und nicht gemacht zu werden"17. Jürgen Habermas befürchtet eine mit dem Willen zur "Selbstoptimierung" einhergehende "Selbstinstrumentalisierung" und "Selbstverdinglichung" des Menschen. Die Freiheit und Gleichheit der Menschen untereinander werde zerstört, das Verhältnis von Eltern und Kindern in einer Art genetischem "Paternalismus" in das von "Designer und Produkt" verkehrt, die bisher "unverfügbare natürliche Basis" unseres Daseins, die an der "Differenz von Schöpfer und Geschöpf" hängt, in eine soziale umfunktioniert.18 Angesichts der verschiedenen philosophischen Positionen ist es jedoch fraglich, ob eine absolute Begründung der Menschenwürde mit den Mitteln der säkularen Vernunft, ohne den "Horizont der Transzendenz" und den Rückgang auf einen Schöpfergott, überhaupt möglich und gesellschaftlich wirksam ist, ob der Mensch nicht letztlich nur durch den Glauben an Gott vor seinesgleichen geschützt werden kann.19 Der sich bisher zu den "religiös Unmusikalischen" zählende Habermas hat diese Frage jedenfalls in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels jüngst unüberhörbar gestellt.

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IV

Nach dem geltenden Recht und der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) kommt auch dem Embryo von Anfang an das Recht auf Leben und die Menschenwürde zu: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."(Art.1,1 GG) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit."(Art.2,2 GG) Das nach dem ersten deutschen Retortenbaby (1986) 1990 erlassene Embryonenschutzgesetz (ESchG) verbietet alle Fortpflanzungstechniken, die nicht der Herbeiführung einer Schwangerschaft dienen (Erzeugung überzähliger Embryonen, extrakorporale Verwendung, Klonen, Eingriffe in die Keimbahn, Chimären- und Hybridbildung). "Als Embryo im Sinne des Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embrypo entnommene totipotente Zelle, die sich...zu einem Individuum zu entwickeln vermag."(§ 8 ESchG)

Zuvor hatte sich bereits das Bundesverfassungsgericht in seinen beiden Urteilen von 1975 und 1993 zur Abtreibung über den Status des ungeborenen menschlichen Lebens geäußert: "Das sich entwikkelnde Leben nimmt an dem Schutz teil, den Art.1 Abs.1 GG der Menschenwürde gewährt. Es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen."20 "Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu, nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität (vgl. bereits § 10 I ALR: 'Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern, schon von der Zeit ihrer Empfängnis.'). Es bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, ob, wie es Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie nahelegen, menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht...Jedenfalls in der so bestimmten Zeit der Schwangerschaft handelt es sich bei dem Ungeborenen um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozeß des Wachsens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt...Wie immer die verschiedenen Phasen des vorgeburtlichen Lebensprozesses unter biologischen, philosophischen, auch theologischen Gesichtspunkten gedeutet werden mögen und in der Geschichte beurteilt worden sind, es handelt sich jedenfalls um unabdingbare Stufen der Entwicklung eines individuellen Menschseins. Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu."21

Therapeutisches Klonen, verbrauchende Embryonenforschung, Erzeugung von Stammzellen aus überzähligen Embryonen u.ä. sind in Deutschland gesetzlich verboten. Allerdings wird angesichts der neuen Möglichkeiten von Forschung und Therapie eine Änderung des Embyonenschutzgesetzes erwogen. Während Bundespräsident Rau in seiner Berliner Rede für den unbedingten Schutz des ungeborenen Lebens eintrat,22 forderte Bundeskanzler Schröder eine Diskussion "ohne ideologische Scheuklappen".

Nach Auffassung des Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst-Ludwig Winnacker, erfolgte der ethische "Dammbruch" bereits mit der Zulassung der künstlichen Befruchtung.23 In der Tat wird hier für die Herbeiführung einer Schwangerschaft der Tod vieler Embryonen in Kauf genommen: In der Tiefkühlkonservierung sterben viele Zygoten; ca.80% der übertragenen Embryonen gehen wieder ab; in England und Amerika gibt es Tausende überzähliger Embryonen. Sollte man diese ungeborenen Kinder nicht unfruchtbaren Müttern zur Adoption anbieten? Haben diese kleinen Menschen nicht ein Recht, zu sterben, anstatt zu therapeutischen Zwecken instrumentalisiert und ausgeschlachtet zu werden? Heiligt der noch so verständliche Kinderwunsch alle, auch tötliche Mittel?

Durch die Liberalisierung des § 218 StGB, die geltende "Fristenlösung mit Beratungspflicht" mit ihrer sophistischen Unterscheidung zwischen "rechtswidrig" und "straffrei" und die praktische Freigabe der Abtreibung in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft ist das Unrechtsbewußtsein breiter Massen längst schwer erschüttert. Das Lebensrecht des Embryos ist in den ersten 14 Tagen vor der Nidation, ebenso wie in den anschließenden ersten 12 Wochen der Schwangerschaft, in unserer Gesellschaft in großer Gefahr und droht, dem Therapieverlangen kranker Erwachsener geopfert zu werden.

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V

Obwohl die biologische Entwicklung des Embryos und die neuen gentechnischen Möglichkeiten früheren Zeiten unbekannt waren, liegen doch in der Bibel genügend Aussagen über das ungeborene menschliche Leben vor, um eine Gottes Willen entsprechende ethische Entscheidung hinreichend begründen zu können. Neben dem alles menschliche Leben schützenden Gebot des Dekalogs: "Du sollst nicht töten!"(Ex 20,13; Dtn 5,17; Gen 9,5f.; Mk 10,19) sind hier vor allem die Worte vom Leben im "Mutterleib" anzuführen:

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Die Bibel Alten und Neuen Testaments bezeugt mit diesen und anderen Stellen wie ein Chor, daß Gott nicht nur jedes menschliche Leben im Mutterleib zu seinem Ebenbild geschaffen hat, sondern "im Verborgenen" - "ehe" es zur tatsächlichen Bildung des Lebens kam - jeden einzelnen Menschen als solchen von Ewigkeit her "erkannt", geplant und geliebt hat. Diese unüberhörbaren prädestinatianischen Anklänge weisen darauf hin, daß es hier keineswegs nur um die zeitliche Erschaffung des Menschen durch Gott geht.

Vielmehr zielt der Schöpfer von Anfang an bei der Erschaffung des Menschen auf seine ewige Gemeinschaft mit Gott hin, die zwar durch die Sünde in Frage gestellt, aber durch das Erlösungswerk Jesu Christi wieder eröffnet worden ist. Jesus Christus nimmt nicht nur als Schöpfungsmittler an der Erschaffung des Menschen teil, sondern nahm selbst zu unserer Erlösung im Mutterleib der Jungfrau Maria menschliche, kindliche, embryonale Gestalt an (Mt 1,18ff.;Lk 1,26ff.). Entsprechend sind Jes 49,1 und Ps 22,10f. messianisch zu deuten. Und ebenso ist die dritte Person der Gottheit, der Heilige Geist, an Schöpfung, Erlösung und Vollendung des Menschen beteiligt (Gen 1,2; Mk 1,10;Röm 8,11). Wie man die großartige, hochkomplizierte Genprogrammierung des Menschen als Werk des Schöpfergeistes verstehen kann, so die damit geschaffene Möglichkeit und Verwirklichung der personalen Zuwendung und Gemeinschaft mit Gott in der Erleuchtung des rechtfertigenden Glaubens und in der Auferweckung der Toten. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, die ganze Fülle des biblischen, trinitarischen Gottesglaubens drängen so zu der Einsicht, daß das menschliche Leben von Anfang an und von Ewigkeit her als Gottes Geschöpf absolut zu achten ist, weil es von Gott unbedingt und in Ewigkeit geliebt wird, ja das Gott in Jesus Christus sich selbst zu eigen gemacht hat. Auch das Leben eines menschlichen Embryos ist von Anfang an von Gott geschaffen, geplant, gewollt und geliebt und steht insofern unter dem Schutz seines Gebots. Wird dieser Glaube auch nicht von allen Menschen dieser Erde geteilt, so gilt er doch aus der Sicht des Glaubens für alles, was menschliches Antlitz trägt. Wenn der Mensch, nachdem er durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms eine neue Frucht vom "Baum der Erkenntnis"(Gen 2,9) gepflückt hat, nun in titanenhaftem Übermut "Gott spielen"(James Watson, Jeremy Rifkin), seine Hand nach dem "Baum des Lebens" ausstrecken und "ewiglich leben"(Gen 3,22) will, gerät er in tödlichen Konflikt mit dem "Gott des Lebens" (1.Joh 1,2), der der Herr über Leben und Tod bleibt.

Entsprechennd dieser biblischen Vorgaben fällt das Zeugnis der christlichen Kirchen überraschend einhellig aus. Seit Pius IX 1869 der alten, aristotelischen Unterscheidung von unbeseeltem und beseeltem Zustand des Embryos endgültig den Abschied gab, fordert die Katholischen Kirche den ungeteilten Schutz des menschlichen Lebens von Anfang an. So heißt es in der Gemeinsamen Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz "Gott ist ein Freund des Lebens"(1989): "Beim vorgeburtlichen Leben handelt es sich somit nicht etwa bloß um rein vegetatives Leben, sondern um individuelles menschliches Leben, das als menschliches Leben immmer ein werdendes ist. Es kann darum auch nicht strittig sein, daß ihm bereits ein schutzwürdiger Status zukommt und es nicht zum willkürlichen Objekt von Manipulationen gemacht werden darf...Jedes menschliche Leben erhält einen eigenen Wert und Sinn, indem Gott es schafft, ruft, achtet und liebt; der Mensch hat eine unverlierbare Würde, weil Gott ihn berufen hat, sein Gegenüber zu sein, und ihn in Jesus Christus unbedingt angenommen hat; ungeborene Kinder sind dabei mitgemeint...Die Würde des menschlichen Lebens verbietet es, daß es bloß als Material und Mittel zu anderen Zwecken genutzt und - erst recht - gar nur erzeugt wird... Schon die kleinste Bewegung in der Richtung auf die Zulassung 'verbrauchender' Forschung an Embryonen überschreitet eine wesentliche Grenze. Es geht hier um den Schutz oberster Rechtsgüter, letzten Endes um die Achtung vor der Würde des Menschen und seines Rechtes auf Leben, die in Art.1 und 2 des Grundgesetzes verankert sind.24

In diesem Sinne treten die führenden Repräsentanten beider Kirchen in Deutschland, Präses Kock und Kardinal Lehmann, für den unbedingten Schutz der Embryonen und das Verbot aller verbrauchenden Experimente mit ihnen ein. Eine neue, vielleicht ökumenische Denkschrift zu den Fragen der Bioethik ist angesichts der neuen Herausforderungen jedoch ein dringendes Desiderat. Am überzeugendsten hat sich bisher in der Öffentlichkeit der Heidelberger Theologieprofessor Klaus Berger geäußert, der zwei einfache Grundsätze aufgestellt hat: 1)"Verändern ja, Töten nein" - "Strenge beim Tötungsverbot mit einem relativ großen Freiraum bei verändernden Eingriffen". 2)"Verhinderung vermeidbaren großen Leidens" ja, "Optimierung irgendwelcher Eigenschaften" nein, wobei "lebensnotwendige Funktionen" das "Kriterium" wären.25 Kirchenleitungen, Synoden, Kirchentage und Christen müssen ihre Stimme erheben, wenn unsere postchristliche, säkularisierte, pluralistische Gesellschaft vor schlimmen, inhumenen Irrwegen bewahrt werden soll. Angesichts der neuen Bedrohung des Menschen durch den Gentechnik sollten wir Christen ein klares Bekenntnis für den Embryo als Gottes Geschöpf ablegen!26


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1) FAZ 29.8.01.

2) FAZ 25.6.01.

3) So der Nestor der modernen Embryologie, Prof.D.E.Blechschmidt, Daten der menschlichen Frühentwicklung: P.Hoffacker u.a.(Hg.), Auf Leben und Tod, 19915, 43.

4) Wolfram Höfling, FAZ 10.7.01.

5) DIE ZEIT 16.9.00.

6) Vgl.Michael Naumann, Der Staat und die Heiligkeit des Lebens. Rede auf dem Kirchentag in Frankfurt/Main: DIE ZEIT 21.6.01.

7) Peter Singer, Praktische Ethik, 1979, dt.1984.

8) FAZ 5.3.01.

9) Lutherische Nachrichten 21/3, S.11-31.

10) Vgl. M.Honecker, Genetische Eingriffe und Reproduktionsmedizin: ZThK 84,1987,121: "Diese frühen Stadien, Embryonen, sind auf das Personwerden hin angelegt. Insofern sind sie schon in den Schutz der Menschenwürde einbezogen. Eine ausschließliche Bestimmung des Menschen mit Hilfe der Begriffe Freiheit, Vernunft und Verantwortung verfehlt das Leibsein des Menschen. Menschliches Leben wird fundamental konstituiert durch seine Leibhaftigkeit. Der Mensch ist zunächst einmal Leib. Ohne Leib ist der Mensch auch nicht der Vernunft, Freiheit und Verantwortung fähig und mächtig. Das ungeborene menschliche Leben verweist auf ein Leibapriori, das dem Menschen zeitlich vor und unabhängig von aller Geistigkeit und sprachlichen Artikulationsfähigkeit eignet. Die Menschlichkeit ist vor allem Verstehen und aller Selbstexplikation zunächst einmal eine biologische, natürliche Gegebenheit."

11) Kritik der Praktischen Vernunft, 1788, 54.

12) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 17862, 64; vgl. Kritik der praktischen Vernunft, aaO., 155f.

13) Ulrich Lüke, FAZ 21.8.00.

14) Gerold Prauss, FAZ 5.7.01.

15) Reinhard Löw, FAZ 3.1.85.

16) Robert Spaemann, FAZ 30.8.89;21.3.01; Versuch über Ethik, 1989.

17) FAZ 23.9.99.

18) FAZ 30.6.01;15.10.01.

19) Giovanni B.Sala (SJ), FAZ 16.8.01.

20) 1975; BVerfGE 39,41.

21) 1993; BVerfGE 88,252.

22) FAZ 19.5.01.

23) FAZ 5.5.01.

24) Gott ist ein Freund des Lebens, 1989, 43f.64f.

25) FAZ 20.4.00.

26) In ähnlicher Weise und mit demselben Ergebnis verknüpft Oswald Bayer biologische, philosophische, juristische und theologische Aspekte; besonders beeindruckend seine Exegese von Psalm 8: Selbstschöpfung? Von der Würde des Menschen: Schöpfungsglaube - von der Bioethik herausgefordert. Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg 32, 2001, 179-199.

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