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Allein das Wahre ehren und lieben1

Der Märtyrer Justin als Wegweiser für heute
Reiner Vogels, 1999

Tag für Tag strömen Scharen von Touristen zur Piazza Rotonda in Rom, um das Pantheon zu besichtigen. Das Pantheon ist ein eindrucksvoller Rundtempel von kolossaler Größe mit einem riesigen Kuppeldach. Agrippa hat es im Jahre 27 vor Christi Geburt errichten lassen. Möglicherweise ist es ursprünglich der Verehrung der sieben Planetengötter gewidmet gewesen. Der Name „Pantheon“ – frei übersetzt: „Für alle Götter“ – läßt aber vermuten, daß die Planetengötter die gesamte Welt symbolisierten und daß mit ihnen alle Götter geehrt werden sollten. In diesem Verständnis ist das Pantheon ein Symbol für die tolerante, multikulturelle Religosität Roms. Das Gebäude hat die Jahrtausende nahezu unbeschädigt überstanden. Es läßt heute noch in eindrucksvoller Weise die Macht des Imperium Romanum erkennen. Rom war ein Weltreich, es verfügte in jeder Hinsicht praktisch über unbegrenzte Möglichkeiten. Heute jedoch dient das Pantheon als christliche Kirche.

1. Zurück in die vorkonstantinische Zeit

Wie hat es dazu kommen können, daß das mächtige Römische Reich mit seiner multikulturellen Vielfalt, seinem militärischen und wirtschaftlichen Potential, seinen Gelehrten und Philosophen, Künstlern und Dichtern nach langem und heftigem Kampf vom Christentum besiegt worden ist? Generationen von Historikern und Theologen haben diese Frage zu beantworten versucht. Es wäre müßig, den verschiedenen Antworten der Fachleute eine neue hinzufügen zu wollen. Es ist jedoch für die heutige Christenheit in höchstem Maße lehrreich und wegweisend, wenn sie den Blick auf die Christen der damaligen Zeit richtet, die im Widerstand gegen den römischen Staat gestanden und schließlich gesiegt haben. Dies ist deshalb so lehrreich, weil alles dafür spricht, daß sowohl in Staat und Gesellschaft als auch in der Kirche in absehbarer Zeit Zustände erreicht werden, die denen der vorkonstantinischen Epoche ähnlich sind.

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1.1 Die Entwicklung in der Gesellschaft

Was ist die “multikulturelle” Gesellschaft anderes als das römische Konzept eines „Pantheon“ aller Götter? Was ist die Enttabuisierung der menschlichen Sexualität einschließlich all ihrer Perversionen anderes als das, wovon Tacitus, Apuleius, Petronius und andere und nicht zuletzt die christlichen Apologeten Kunde geben? Was war das nach dem Motto "parcere subjectis et debellare superbos" - "Die Unterworfenen schonen und die Hochmütigen niederkämpfen" (Vergil, Äneis VI, 853) mit militärischer Gewalt durchgesetzte römische Imperium anderes als die “Neue Weltordnung” des Westens? Immerhin handelt die NATO genau nach diesem Rezept, wenn sie das Bündnismitglied Türkei, das also den Regeln des Bündnisses unterworfen ist, trotz schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen gegenüber den unterdrückten Kurden schont und das widerspenstige, stolze und hochmütige Jugoslawien niederkämpft. Was schließlich ist das neue, auf einen echten Totalitarismus hinzielende System von Sprachregelungen der Political Correctness anderes als der für alle Bürger des römischen Reiches verbindliche Kaiserkult? Müssen nicht heute ebenso wie damals alle Bürger den Geßlerhüten der Political Correctness ihre Reverenz erweisen, wenn sie nicht mit öffentlicher Ächtung gestraft werden wollen?

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1.2 Die Entwicklung in der Kirche

Daß die Kirche längst nicht mehr in der Mitte der Gesellschaft steht, ist offenkundig. In vielen Ländern des Westens ist sie längst zu einer marginalen Größe verkommen. Immer mehr repräsentative Kirchengebäude in den Zentren der Städte stehen leer oder werden einer nichtkirchlichen Nutzung zugeführt. Kirchliche Feiertage werden abgeschafft, oder der staatliche Schutz der Feiertage wird abgebaut (Sonntagsarbeit, Ladenöffnungszeiten etc.). Der Religionsunterricht an den Schulen wird Schritt für Schritt eingeschränkt. (Siehe z.B. nicht nur LER in Brandenburg, sondern auch die Streichung der 3. Religionstunde in der Grundschule in NRW). Die Liste ließe sich verlängern. Sie macht deutlich, daß es wohl nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch die letzten Reste der konstantinischen Ehe von Staat und Kirche verschwunden und die letzten Bastionen großkirchlicher Machtentfaltung geschleift worden sind.

Mancher mag an diesen Parallelisierungen zwischen unserer Zeit und dem vorkonstantinischen Rom Zweifel äußern und daran erinnern, daß sich die Geschichte nicht wiederholt, dennoch sind die Parallelen nicht von der Hand zu weisen. Selbst die Möglichkeit der Christenverfolgung erscheint wetterleuchtend am Horizont: In den Niederlanden ist kürzlich ein Pastor von einem staatlichen Gericht bestraft worden, weil er Homosexualität als Sünde bezeichnet hat. Die Bestrafung ist logisch in einer Gesellschaft, in der den Tabus der Political Correctness eine quasi religiöse Reverenz erwiesen wird.

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2. Justin der Märtyrer, ein Vorbild für heute

Wenn diese Analyse richtig ist, wenn der Christenheit also Zustände bevorstehen, die denen im römischen Kaiserreich vor Konstantin vergleichbar sind, dann ist es in der Tat nicht zuletzt für die Zukunft der Kirche wichtig und lehrreich, bei den Christen in die Schule zu gehen, die damals gelebt haben.

Einer von denen, die in der Zeit der Verfolgungen zu den geistigen Führern der Christenheit gehört haben, war Justin der Märtyrer. Wie er selbst im Präskript seiner großen Apologie schreibt, stammt er aus Flavia Neapolis in der Provinz Syrien, dem heutigen Nablus. Er war ursprünglich ein platonischer Philosoph (Apologia Minor, 12, 1), ist dann aber, tief beeindruckt durch das todesmutige Zeugnis der christlichen Märtyrer, Christ geworden. Etwa im Jahre 165 nach Christi Geburt ist er in Rom als Märtyrer umgebracht worden. Justin gilt als der bedeutendste Vertreter der frühkirchlichen Apologetik. Viele Male erwähnt und zitiert ihn Euseb in seiner Kirchengeschichte. Daraus kann man schließen, daß Justin weit über seine Generation hinaus großen Einfluß auf die vorkonstantinische Christenheit gehabt hat. Wenn die heutige Christenheit aus der Geschichte lernen will, dann sollte sie nicht zuletzt bei einem Zeugen wie Justin damit beginnen.

Es sind vor allem drei Positionen gegenüber Staat und Gesellschaft, die für Justin - und nicht nur für ihn, sondern für die gesamte frühe Christenheit - zentrale Bedeutung hatten:



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2.1. Ablehnung der Vielgötterwelt und Bekenntnis zum einzig wahren Gott

Die frühe Christenheit hat nie ernsthaft über die Möglichkeit nachgedacht, daß sie sich in das römische Pantheon der polytheistischen Götterwelt einfügen und so gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen könnte. Eine solche Möglichkeit war für sie außerhalb jeder Debatte. Schließlich war sie von der Wahrheit und Richtigkeit ihres Glaubens überzeugt. Daher konnte es auf christlicher Seite für die bunte Götterwelt der Heiden nur ein klares Nein geben. “Deos vestros colere desinimus, ex quo illos non esse cognoscimus.” - “Wir unterlassen es, eure Götter zu verehren, auf Grund der Tatsache, daß wir erkannt haben, daß sie keine sind”2 , ruft Tertullian den römischen Herrschern entgegen, und genau so hat schon Justin argumentiert.

Gleich zu Beginn seiner Apologia Major (1,1) bekennt er sich dazu, daß er einer von denen ist - gemeint sind die Christen -, die zwar fromm sind, aber dennoch zu Unrecht gehaßt und mißhandelt werden. Kompromißlos ist dieses Bekenntnis. Nur ja oder nein, kein sowohl als auch läßt es zu. Und diese Geradlinigkeit und Klarheit durchzieht die gesamte Apologie."Die Vernunft gebietet, daß die in Wahrhaftigkeit Gottesfürchtigen und die Philosophen allein das Wahre ehren und lieben.”3 Für die heutzutage weit verbreiteten Versuche, das Evangelium an die herrschenden Lehren der Zeit anzupassen, hätte Justin und mit ihm die gesamte frühe Christenheit keinerlei Verständnis gehabt.

Das gilt dann auch für das Bekenntnis zu dem einen Gott und der damit verbundenen Ablehnung des heidnischen Polytheismus. Justin lehnt die heidnischen Götter nicht nur für sich und die Christen ab, um sie gleichzeitig als Glaubensinhalte andersgearteter Religiosität zu achten, sondern er verwirft sie generell, und zwar mit deutlichen Worten. So bezeichnet er sie als "böse und gottlose Dämonen"4.

Wie anders ist die Praxis der Kirche heute! Auf dem Stuttgarter Kirchentag im Sommer 1999 sind im Rahmen von sogenannten “Feierabendmahlen” gezielt Symbole nichtchristlicher Religionen zum Altar gebracht und in die Liturgie des Gottesdienstes einbezogen worden. Dies ist eine bewußte Religionsvermischung gewesen, die dem Ziel diente, die Verkündigung der Wahrheit zu relativieren.

Diesen Weg sind die Christen der ersten Jahrhunderte nicht gegangen. Im Gegenteil, sie hätten - zu Recht - derartige Aktionen als Verrat am Evangelium aufgefaßt und entsprechend bekämpft. Justin hätte ganz gewiß seine Hand nicht zu einer Ökumene aller Religionen gereicht. Er hat es statt dessen bewußt in Kauf genommen, daß die Christen als Atheisten verleumdet wurden, weil sie die Götter des antiken Götterhimmels verworfen haben: "Von daher werden wir Atheisten genannt. Und wir bekennen, daß wir im Blick auf diese sogenannten Götter Atheisten sind, nicht jedoch im Blick auf den Allerwahrhaftigsten, den Vater der Gerechtigkeit, des gesunden Verstandes und aller Tugenden, den Gott, an dem keinerlei Falsch ist. Aber ihn und seinen Sohn, der gekommen ist und uns alles das gelehrt hat, und das Heer der ihm folgenden und ihn nachahmenden Engel und den prophetischen Geist beten wir an und werfen uns nieder vor ihm." 5

Justin ist mutig und eindeutig in seinen Formulierungen. Er hat für seine Eindeutigkeit mit dem Leben bezahlt. Aber auf diese Weise hat er am Ende zu denen gehört, deren Blut zum Samen6 werden sollte. Daß es heute überhaupt noch christliche Kirchen gibt, daß der römische Staat schließlich im 4. Jahrhundert den Kampf gegen die Kirche aufgegeben hat und die Kooperation mit ihr gesucht hat, ist nicht zuletzt dem Zeugnis und dem Bekennermut der Märtyrer (und der vielen Märtyrerinnen) zu verdanken. Daher gilt: Wenn die Kirche heute das Zeugnis der frühkirchlichen Märtyrer mißachtet und Religionsvermischung und Relativierung der Wahrheit betreibt - und der jüngste Kirchentag ist nicht das einzige Beispiel für solche Greuel -, dann verrät sie nicht nur das Evangelium und das Erbe der Märtyrer, sie greift auch das Fundament an, auf dem sie selbst als Kirche, historisch gesehen, steht. Es ist verwerflich, so zu handeln.

Bemerkenswert an der schon zitierten Justinstelle ist, daß sich sein Bekenntnis nicht in der Negation erschöpft. Im Gegenteil, Justin geht über die bloße Ablehnung der antiken Götterwelt weit hinaus, indem er positiv das Bekenntnis zu dem einen, wahren Gott entfaltet. Und dieser Gott ist für Justin nicht etwa der monotheistische Gott der menschlichen Vernunft, nicht der unpersönliche Gott der Philosophen, wie man es bei einem Schüler Platons eigentlich erwarten könnte, sondern es ist der dreieinige Gott, wie er sich in der Bibel offenbart hat. Das wird an anderer Stelle der Apologie noch deutlicher:

"Wer, der bei klarem Verstand ist, würde nicht zugestehen, daß wir keine Atheisten sind, die wir den Schöpfer des Alls verehren und sagen, wie wir es gelernt haben, daß er keiner Blutopfer, Trankopfer und Räucheropfer bedarf, die wir mit aller Kraft mit dem Wort des Gebets und der Danksagung ihn rühmen für all das, womit er uns nützt, die wir jene allein seiner würdige Ehrerbietung annehmen, daß wir nicht durch Feuer verzehren, was er uns zur Nahrung geschaffen hat, sondern es uns selbst und den Bedürftigen darbringen, ihm aber dankbar durch das Wort Festzüge und Hymnen darbringen dafür, daß er die Grundlagen zum Wohl aller erschaffen hat, nämlich die Elemente der Schöpfung und die Umwälzungen der Stunden, und auch dafür, daß er die neu in Unsterblichkeit erschafft, die ihm im Glauben Gebete emporsenden.

Wir erklären, daß wir an zweiter Stelle [unseres Glaubens]den uns gewordenen und zu diesem Zweck erzeugten Lehrer all dieser Dinge haben, Jesus Christus, der unter Pontius Pilatus, der in Judäa zur Zeit von Kaiser Tiberius Statthalter war, gekreuzigt worden ist, und daß wir gelernt haben, daß er der Sohn des wahrhaftigen Gottes ist,

und vom prophetischen Geist als drittem in der Reihe, daß wir ihn mit dem Wort verehren. 7


In diesen Zitaten findet sich im Ansatz bereits die gesamte christliche Gotteslehre. Die Sätze des Justin sind voll von ausgesprochen “dogmatischen” Formulierungen. Wenn man bedenkt, daß er seine Apologie an den heidnischen Kaiser Antoninus Pius, an seinen Sohn Verissimus und an Senat und Volk von Rom adressiert hat, daß diese Schrift also für die gebildete, dem Christentum feindlich gegenüberstehende Öffentlichkeit bestimmt war, muß man es aus heutiger Sicht bemerkenswert finden, daß Justin den Gebildeten und Rationalisten seiner Zeit keinen Zeitgeistrabatt gewährt hat. Gerade auch als Apologet ist er kein Vermittlungs- und Anpassungstheologe gewesen. Ohne Wenn und Aber hat er statt dessen der feindlichen Umwelt den christlichen Glauben als Alternative und Widerspruch zur menschlichen Weisheit verkündet. Keineswegs hat er ihn als Variante der menschlichen Weisheit oder spirituelle Überhöhung des menschlichen Geistes darzustellen versucht. Dies ist für die Art und Weise, wie er Theologie getrieben hat, eine strategische Grundentscheidung gewesen: Der Welt wollte er die Wahrheit sagen, kompromißlos und unverkürzt. Abmilderungen für die Rationalisten und Konzessionen an das Vorverständnis seiner Zeitgenossen waren nicht erlaubt. Er hat die Menschen nicht - psychologisch, religiös, methodisch - “abgeholt”, wo sie waren, wie es heute herrschende Praxis von Theologie und Kirche ist, sondern er hat sie mit der ganzen biblischen Wahrheit, wie er sie verstanden hatte und wie sie der Lehre der Apostel entsprach, konfrontiert.

Dieser strategischen Grundentscheidung müßten Kirche und Theologie heute wieder folgen, wenn sie glaubwürdig werden wollen. Das Evangelium ist nicht der Inbegriff der menschlichen Spiritualität. Es ist auch nicht die Summe der geistigen und sittlichen Anstrengungen des Menschen. Es ist eine dem menschlichen Verstand fremde Lehre, die sich gegen jede Anpassung sperrt.

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2.2. Moralische Abgrenzung vom unmoralischen Leben der Heiden

Die zweite Thematik, bei der sich die Christen der ersten Jahrhunderte bewußt und konsequent von ihrer heidnischen Umwelt abgegrenzt haben, war die Moral. Zweifellos sind die Grundlagen dafür schon im Neuen Testament gelegt worden, aber es ist deutlich, daß die Christen der ersten Jahrhunderte gerade in diesem Punkt das Besondere des christlichen Glaubens herausgestellt haben. So lesen wir z.B. in der frühkirchlichen Schrift an Diognet über die Christen: Sie heiraten wie alle, zeugen und gebären Kinder, aber sie setzen die Neugeborenen nicht aus. Ihren Tisch bieten sie als gemeinsamen an, aber nicht ihr Bett. Im Fleisch befinden sie sich, aber sie leben nicht nach dem Fleisch. Auf Erden weilen sie, aber im Himmel sind sie Bürger. Sie gehorchen den erlassenen Gesetzen, und mit ihrer eigenen Lebensweise überbieten sie die Gesetze."8 Und in der Zwölfapostellehre, einer Schrift, die gegen Ende des 1. Jahrhunderts verfaßt worden ist, steht: "Du sollst ... nicht abtreiben noch ein Neugeborenes töten!"9 Gerade auch Justin hat dieses Thema in aller Breite behandelt. Mit Abscheu hat er die moralische Verkommenheit des heidnischen Lebensstils und der heidnischen Götter gegeißelt. Nicht ohne Stolz hat er auf der anderen Seite die moralische Überlegenheit der Christen und ihres Gottes dem entgegengestellt. Er weist darauf hin, daß Zeus in den Erzählungen der Heiden als Vatermörder, als Freund schändlicher Vergnügungen und als Ehebrecher10 geschildert werde und empört sich darüber gerade angesichts der Tatsache, daß Zeus bei den Menschen als Vorbild gelte. "Alle glauben nämlich, daß es schön sei, Nachahmer der Götter zu sein."11 Für die Christen dagegen gilt: "Wir aber sind gelehrt worden, daß allein die, die fromm und tugendhaft bei Gott leben, die Unsterblichkeit erlangen, glauben aber, daß die, die ungerecht leben und sich nicht ändern, in ewigem Feuer gestraft werden."12. Die moralische Überlegenheit der Christen betrifft dabei keineswegs nur die geschlechtlichen Dinge. Justin scheut sich nicht, die populäre Sage von Herakles am Scheideweg, nach der Herakles zwischen Tugend und Laster zu wählen hatte, aufzugreifen und sie auch für Christen gelten zu lassen. "Wir sind vollkommen überzeugt, daß der, der das scheinbar Gute meidet, den Weg aber, der für hart und widersinnig gehalten wird, beschreitet, Glückseligkeit erlangen wird."13 Allerdings ist klar, daß im Bereich des Geschlechtlichen die moralische Überlegenheit der Christen in besonderer Weise sichtbar gemacht werden konnte. Als ein besonders krasses Beispiel heidnischer Verkommenheit in der Moral nennt Justin das Aussetzen von Kindern im Zusammenhang mit der Kinderprostitution: "Wir aber, damit wir nichts Unrechtes und Unfrommes tun, sind gelehrt worden, daß es ein Handeln von Übeltätern ist, neugeborene Kinder auszusetzen. Dies an erster Stelle deshalb, weil wir sehen, daß fast alle [Ausgesetzten] zur Prostitution gebracht werden (nicht nur die Mädchen, sondern auch die Jungen) und daß man so, wie die Alten bekanntlich Herden von Rindern, Ziegen oder Schafen gefüttert haben oder von Weidepferden, heute solche von Kindern allein zum schändlichen Gebrauch hält. ... Und wenn jemand diese in einem gottlosen und frevelhaften und unreinen Verkehr benutzt, verkehrt er, wenn es der Zufall will, mit seinem Kind, seinem Bruder oder seinem Verwandten."14 Diesem schändlichen Treiben der Heiden stellt Justin die moralisch richtige Lebenspraxis der Christen entgegen: "Sondern entweder heiraten wir von vornherein nicht, es sei denn zum Aufziehen von Kindern, oder wir vermeiden es zu heiraten und leben vollständig enthaltsam."15 Wenn man diese Texte liest und die heutige Zeit betrachtet, fragt man sich, ob unsere heutige Zeit nicht wieder soweit ist wie damals. Gewiß, es werden bei uns noch keine Kinder ausgesetzt, aber das haben die Menschen, die ihre Kinder loswerden wollen, heute auch nicht mehr nötig, weil die Praxis der Abtreibungen gegenüber der Antike so große “Fortschritte” gemacht hat. Inzwischen ist auch in Deutschland ein Produkt der pharmazeutischen Industrie zugelassen, das zwar als Medikament bezeichnet wird, in Wahrheit aber nichts anderes ist als ein tödliches Gift. Dieses “Pharmakon” soll nicht heilen oder Leiden lindern, sondern es verfolgt allein den Zweck, einem ungeborenen Kind das Leben zu nehmen. Ist das wirklich besser als die Praxis der Antike, unerwünschte Kinder einfach auszusetzen? Ein ausgesetztes Kind damals hatte immerhin noch die Chance, von liebevollen Menschen mitgenommen und wie ein eigenes Kind aufgezogen zu werden. Ein ungeborenes Kind, dessen Mutter die Abtreibungspille geschluckt hat, ist einem stundenlangen, qualvollen Todeskampf ausgesetzt. Eine Chance, gerettet zu werden, hat dieses Kind im Gegensatz zu den ausgesetzten Kindern der Antike nicht. Im übrigen sind Kinderprostitution und Kinderpornographie in unserer Zeit weit verbreitet. Auch in diesem Punkt hat unsere Zeit also die von Justin beschriebenen Verhältnisse wieder eingeholt. Das Gleiche gilt von Ehebruch und allen möglichen sexuellen Verirrungen wie z.B. Homosexualität.

Parallelen zwischen der heutigen Zeit und der Zeit der frühen Christenheit gibt es viele, allerdings gibt es in dem, was die Kirche heute tut, einen entscheidenden Unterschied zu damals: Damals haben die Christen versucht, ein anderes, besseres und moralischeres Leben zu führen. Heute jedoch ist es erklärtes Ziel von Kirchenleitungen und Synoden, die kirchliche Lehre an die gewandelten Moralvorstellungen der Bevölkerung anzupassen. Das beste Beispiel für diesen traurigen Irrweg ist die Diskussion, die in der rheinischen Kirche über das SULTUS-Papier geführt worden ist. Auf derselben Linie liegt die Tatsache, daß unsere Kirche nach wie vor schützend die Hand über den rheinischen Pfr. i.W. Fliege hält, der öffentlich den Ehebruch rechtfertigt.

Die Beispiele ließen sich vermehren. An den schon genannten wird deutlich, daß die Meinungsführer der heutigen Evangelischen Kirche weit davon entfernt sind, in Fragen der Moral dem richtigen und dem Neuen Testament entsprechenden Kurs der frühen Christenheit zu folgen. Sie sind statt dessen dabei, mit fliegenden Fahnen zur anderen Seite überzulaufen. Niemand soll sich wundern, wenn diesmal am Ende dann die Kirche nicht wie damals im 4. Jahrhundert als Siegerin über ihre Feinde dasteht, sondern wenn sie letztlich ganz die Fahnen streicht und in Schande untergeht.

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2.3. Jenseitsorientierung statt weltlicher Interessen

In seiner Apologia Minor gewährt uns Justin einen Blick in seine Biographie. "Ich selbst, als ich den Lehren Platons anhing und hörte, daß Christen verleumdet wurden, und sah, daß sie ohne Furcht waren gegen den Tod und anderes, was als furchtbar angesehen wird, habe erkannt, daß sie auf gar keinen Fall in Schlechtigkeit und Vergnügungssucht leben können. Denn welcher Vergnügungssüchtige oder Unreine oder wer, der das Fressen von menschlichem Fleisch für gut hält, könnte wohl den eigenen Tod willkommen heißen, damit er der Dinge, die für ihn gut sind, beraubt würde? Wer würde nicht tatsächlich auf alle Weise versuchen, immer im Diesseits zu leben und sich vor den Behörden zu verbergen ...?"16 Offensichtlich hat das Beispiel der Märtyrer einen außerordentlichen Eindruck auf Justin gemacht. Dieses Beispiel war einer der Beweggründe dafür, daß er sich dem christlichen Glauben zugewandt hat. Entscheidend am Beispiel der Märtyrer war dabei die Erkenntnis, daß es diesen nicht um die Verfolgung irdischer Interessen ging, sondern um die Ewigkeit. Das war für Justin unbestreitbar und evident: Wenn es den Christen in erster Linie um irdische Dinge zu tun gewesen wäre, dann wären sie auf keinen Fall bereit gewesen, für ihren Glauben in den Tod zu gehen. Denn mit dem Tod wäre ja die Erreichung irdischer Interessen auf jeden Fall unmöglich gewesen.

Von daher ist Justin zu einer streng jenseitigen Interpretation dessen gelangt, worin die Hoffnung der Christen besteht. So schreibt er in seiner Apologia Major:"Und wenn ihr hört, daß wir ein Königreich erwarten, nehmt ihr willkürlicherweise an, daß wir nach menschlicher Weise davon reden. Dabei reden wir vom Reich Gottes. Das ist auch daraus ersichtlich, daß diejenigen, die von euch verhört werden, sich dazu bekennen, daß sie Christen sind, obwohl sie wissen, daß dem Bekenner die Todesstrafe droht. Wenn wir ein menschliches Königreich erwarten würden, würden wir leugnen, damit wir nicht getötet würden, und uns zu verbergen suchen, damit wir erlangen könnten, was wir erhoffen. Aber da wir unsere Hoffnungen nicht auf das Diesseits setzen, sind wir nicht besorgt um unser Sterben, schließlich muß jeder sterben.17 Ganz ohne Frage muß vor diesem Hintergrund auch die in der frühen Christenheit eigentlich wenig gebräuchliche Formulierung von der “Glückseligkeit” (eudaimonia) in Apologia Minor 11,1 (s.o.) verstanden werden. Es handelt sich dabei nicht um eine Glückseligkeit, wie die Sophisten und die Epikuräer sie für das diesseitige Leben zum Ziel erklärt haben, sondern um die ewige Seligkeit nach der Auferstehung von den Toten.

Das eschatologische Denken des Justin ist also ganz einfach gewesen: Übeltäter erwartet im Jenseits, wenn sie sich nicht bekehren, die ewige Strafe, und die Gott Gehorsamen erwartet die ewige Seligkeit. Justin unterläßt es, diese eschatologischen Vorstellungen zu entmythologisieren und sie lediglich hinsichtlich ihrer existentiellen Bedeutsamkeit gelten zu lassen, sondern er hält sie ganz einfach und in schlichtem Glauben für wahr. Christsein und Glaube sind für ihn keine irdischen Lebensmodelle und Rezepte, mit deren Hilfe man im Diesseits besser leben oder eine gerechtere Welt herstellen kann, sondern sie sind ganz konsequent der Weg zur ewigen Seligkeit. Seine Theologie ist streng auf die Zukunft, nicht die irdische, sondern die jenseitige bezogen. Ehrgeizige Ziele für die Gestaltung dieser Welt setzt er sich nicht.

Allerdings kennt er auch so etwas wie Weltverantwortung. Darunter versteht er den Gehorsam gegen die Gebote Gottes und die Weisungen Jesu. So legt er in seiner Apologia Major in den Kapiteln 15 - 17 mit ausführlichen wörtlichen Bibelzitaten die Weisungen der Schrift für das irdische Leben der Christen aus. Dies gehört aber zum Kapitel Glaubensgehorsam und dient nicht der Verfolgung irdischer Interessen. Der Glaube ist für ihn der Weg in die Ewigkeit, nicht jedoch ein Lebensmodell im Diesseits. Offensichtlich ist Justin derselben Meinung gewesen wie Paulus in 1. Kor. 15,19.

Auch Luthers Theologie ist in diesem Sinne konsequent eschatologisch ausgerichtet gewesen. So heißt es z.B. in der Genesivorlesung zu Gen. 9, 26: "Erudiunt autem haec nos, ut discamus, non quaerendam esse civitatem seu certum locum in hac corporali vita, sed in ista varietate casuum et fortunae, quam haec vita habet, respiciendum esse ad spem aeternae vitae, promissam per Christum. Hic demum portus est, ad quem tanquam solliciti et diligentes nautae debemus in tanta tempestatum vi remis velisque contendere. – Diese Dinge lehren uns aber, daß wir lernen sollen, daß man kein Reich und keine Heimat in diesem materiellen Leben suchen soll, sondern daß man in dieser Wechselhaftigkeit der Ereignisse und des Glücks, welche dieses Leben auszeichnet, seine Aufmerksamkeit auf die Hoffnung des ewigen Lebens richten muß, das durch Christus verheißen ist. Dort ist am Ende der Hafen, zu dem wir gewissermaßen wie besorgte und umsichtige Seeleute in der großen Gewalt der Stürme mit Rudern und mit Segeln hinstreben müssen."18 Die Genesivorlesung stammt aus den letzten Lebensjahren Luthers. Das macht deutlich, daß für Luther vom Gewittererlebnis bei Stotternheim am 2. Juli 1505 bis in die Zeit der letzten Vorlesung hinein die Frage nach der Ewigkeit nicht nur eine Randfrage der Theologie gewesen ist, sondern daß sie die entscheidende und regierende Frage gewesen ist, die Frage, von deren Beantwortung alles andere abhing. Nur vor diesem Hintergrund ist ja zu verstehen, daß für Luther das "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?" zur Schlüsselfrage der Theologie geworden ist.

Ganz anders dagegen ist die Schwerpunktsetzung innerhalb der Theologie im zu Ende gehenden Jahrhundert gewesen. Sowohl die politisierende Theologie Karl Barths als auch das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns haben ein deutliches Gefälle vom Jenseits zum Diesseits. Bei allen Unterschieden im theologischen Ansatz sind sie sich doch darin einig, daß sie die Glaubenslehren immer wieder daraufhin befragen, was sie für das irdische Leben austragen. Es ist in diesem Zusammenhang irrelevant, daß es dem einen dabei mehr um die sozialethischen und politischen Konsequenzen der Theologie und dem anderen mehr um die Bedeutsamkeit des „Kerygma“ für das individuell-bürgerliche Existenzverständnis gegangen ist. Das sind nur Unterscheidungen im Detail. In der Gesamtlinie, daß die Theologie vor allem auf irdische Zielsetzungen und Interessen hin zuzuspitzen sei, verfolgen beide dieselbe Linie. Insofern sind beide großen theologischen Richtungen des 20. Jahrhunderts legitime Kinder der Neuzeit.19


Daß die offizielle Praxis der Evangelischen Kirche immer wieder dieser Linie gefolgt ist und noch folgt, ist offenkundig. Immer wieder wird nach dem Nutzen von Theologie und Glaube "für das Leben" gefragt. Theologie verwandelt sich so unter der Hand zu einer vitalistischen Philosophie. Die meisten der Theologen, die in dieser Weise lehren, sind sich vermutlich dessen nicht bewußt, daß sie damit in der Nachfolge eines der größten und genialsten neuzeitlichen Kritikers und Verächters des Glaubens, nämlich Friedrich Nietzsches20, stehen.

in geradezu klassisches Beispiel für diesen Umgang mit dem Wort Gottes ist die von der Kirchenleitung der Ev. Kirche im Rheinland Anfang der neunziger Jahre herausgegebene "Arbeitshilfe für die Konfirmandenarbeit", die vom Konfirmationsausschuß der Evangelischen Kirche im Rheinland erarbeitet worden ist. Besonders der Themenbereich Gebote (8) bietet eine Fülle von Belegen. Das beginnt schon damit, daß die 10 Gebote die Überschrift erhalten "10 Angebote für mein Leben". Und in dieser Weise geht es weiter. Als Lernziel für die "KonfirmandInnen" wird formuliert: „Die Gebote der Bibel wollen Leben fördern.“ (8.1), und als Überschrift des ersten Gebots dient der Satz: "Du kannst ein freier Mensch sein." (8.3) Wichtig an dieser Art von Theologie ist, daß die Gebote Gottes nicht zunächst einmal als göttliche Gebote hingestellt werden, sondern daß sie als Regeln interpretiert werden, die nützlich sind für das menschliche Leben. In der Konsequenz bedeutet das, daß die Gebote keine Gebote mehr sind, sondern menschliche Maximen. Sie werden Nützlichkeitserwägungen der menschlichen Vernunft als dem entscheidenden Kriterium unterworfen und verlieren am Ende so alle Verbindlichkeit.

Wenn gesellschaftliche Verhältnisse sich ändern, wenn der Lebensstil der Menschen sich wandelt oder wenn einfach nur der Zeitgeist, der ja bekanntlich nichts anderes ist als "der Herren eigener Geist"21, in Gestalt der Meinungspäpste in Presse und Fernsehen neue Verhaltensmuster als Zielvorgaben unter das Volk bringt, dann läuft die Kirche nicht länger Gefahr, konservativ auf göttlichen Geboten beharren zu müssen, sondern kann solche "Gebote" flexibel und elegant der jeweiligen Mode entsprechend neu interpretieren und manipulieren. Und genau dies ist in den letzten Jahren in großem Stil geschehen. Die Kirchentage haben sich immer wieder zur Avantgarde solcher Modernisierungen gemacht. Aber auch der Theologische Ausschuß der rheinischen Landessynode hat sich im Zusammenhang mit der Sexualitäts-Diskussion auf dem Feld der Gebotsmodernisierung in unrühmlicher Weise hervorgetan. Daß solches geschieht, ist nur logisch und konsequent. Es ergibt sich zwingend, wenn man den ersten Schritt getan hat, wenn man nämlich die Verkündigung der Kirche und die Theologie an den Interessen des diesseitigen Lebens ausrichtet und nicht an Gottes Wort und an der Ewigkeit.

Justin und mit ihm die Christenheit in der frühen Märtyrerzeit der Kirche und auch Luther hätten nicht im Traum daran gedacht, in solcher Weise Theologie zu treiben. Im Gegenteil, sie hätten derartige Theologie – mit Recht! - als Verrat an der Wahrheit verstanden und sie entsprechend bekämpft. Das Leben, das diesseitige, irdische Leben ist kein Kriterium für den Glauben und die Verkündigung der Kirche. Es eignet sich dazu auch nur in sehr begrenztem Maße. Bekanntlich sind die Kinder der Welt klüger als die Kinder des Lichts22. Zur rationalen und effektiven Organisation des Lebens in dieser Welt braucht man das Wort Gottes nicht. Das sieht man schon an den Tieren, die sehr effektiv ihr Leben meistern, ohne daß sie das Wort Gottes hätten. Das sieht man aber auch an den vielen rein säkular lebenden Menschen und menschlichen Gesellschaften, die ganz gut ohne Christentum auskommen und oft in der Welt sehr viel Erfolg haben. Der Glaube an das Evangelium ist in seinem Kern das vom Heiligen Geist geschenkte Ergreifen des ewigen Heils. Er ist bezogen auf Jesus Christus, der die Sünde der Menschen hinweggetragen hat aus der Welt, damit wir vor Gott bestehen können und so Zugang erhalten zu seiner ewigen Herrlichkeit. In ihrem Kern ist die christliche Religion eine Jenseitsreligion, und die Verkündigung des Evangeliums verfolgt das Ziel, daß Menschen durch den Glauben errettet werden vom ewigen Verlorensein. Alles andere ist zweitrangig.

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3. Der Märtyrer Justin als Wegweiser für heute

Aus dem bisher Gesagten ist bereits deutlich geworden, in welchen drei Themenbereichen Justin Wegweiser für die heutige Kirche sein sollte. Die heutige Kirche sollte

Wenn die Kirche diesen Weg beschreiten würde, hätte sie gewiß die Verheißung, die gegenwärtige Krise ohne Substanzverlust zu überstehen. Allerdings darf nicht der Eindruck entstehen, als seien diese drei Punkte wiederum lediglich pragmatisch motiviert, als seien sie also ein bloßes Handlungskonzept für das kirchliche Überleben, das sich, wie das Beispiel der ersten Jahrhunderte zeigt, schon einmal bewährt hat. Eine kirchliche Lehre, die nur um ihrer beabsichtigten praktischen Wirkung willen vertreten würde, wäre absurd und sinnlos. Sie würde sich zudem selbst aufheben. Denn wenn es der Kirche nur um die Wirkung zu tun wäre, dann müßte man jederzeit die Frage zulassen, ob dieselbe Wirkung nicht besser und effektiver auf andere Weise erzielt werden könnte. Und wiederum wären die Nützlichkeitserwägungen der menschlichen Vernunft das regierende Prinzip der Theologie.

Die Kirche kann die drei Richtungsangaben des Justin nur dann glaubwürdig vertreten, wenn es ihr dabei um die Wahrheit zu tun ist. Nur dann darf sie es im übrigen auch. Allein das Wahre zu lieben und zu ehren, hat Justin gleich zu Beginn seiner Apologie verlangt. Und nur diese Maxime kann die Grundlage für ein legitimes Handlungskonzept unserer Kirche sein. Das wiederum jedoch kann nicht einfach auf einer in menschlicher Eigenmächtigkeit gefällten Entscheidung beruhen, sondern nur auf dem vom Heiligen Geist geschenkten Glauben. Das „sola fide“ der Reformatoren ist also nicht etwa „nur“ das A und das O der Rechtfertigungslehre - eine Erkenntnis, die den „lutherischen“ Kirchenleuten, die die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ unterschreiben wollen, offensichtlich nicht zugänglich ist - sondern es ist auch der einzige und alleinige Schlüssel zur Überwindung der heutigen Kirchenkrise. Umgekehrt gesagt: Die Tatsache, daß die herrschenden Mehrheiten in Kirche und Theologie heute eben gerade nicht den Weg Justins beschreiten, sondern das Heil in der Anpassung, in einer konturlosen Ökumene der Religionen, in Werterelativismus und moralischer Nivellierung und in lebensphilosophischer Ausrichtung der kirchlichen Botschaft an irdischen Interessen und Bedürfnissen sehen, offenbart die Glaubenskrise als den eigentlichen und tiefsten Grund der heutigen Kirchenkrise. Eine Neubesinnung der Kirche kann daher nur erfolgen, wenn der Heilige Geist sie schenkt.

Bis es soweit ist, werden diejenigen, die aus ihrem Glauben heraus „allein das Wahre lieben und ehren“ wollen, wie es Justin – und im übrigen zeit seines Lebens auch Luther – verlangt hat, stellvertretend für die Mehrheit ihren Weg gehen müssen. Sie sollten dabei nicht allzu viel Zeit darauf verschwenden, sich mit der Mehrheit auseinanderzusetzen oder gar Kompromisse mit ihr zu suchen. Das würde auf sinnlosen Gefechtsfeldern Kräfte binden, die für die Verkündigung der Wahrheit dringend benötigt werden. Auf gar keinen Fall jedoch sollten sie der Mehrheitsmeinung irgendwelche geistliche Autorität zubilligen oder sich unter dem Eindruck ihres übermächtigen publizistischen Meinungsdrucks den Mut zum Sagen der Wahrheit nehmen lassen. In der Reformationszeit haben die Reformatoren erklärt, daß Synoden irren "können". Heute ist aus diesem "können" nahezu flächendeckend Wirklichkeit geworden.

Für die Frage nach der Wahrheit jedoch ist dieser Tatbestand irrelevant. Das Pantheon auf der Piazza Rotonda in Rom ist heute eine christliche Kirche. Nur wenn die Kirche heute und in Zukunft allein das Wahre ehrt und liebt, kann sie davor bewahrt bleiben, daß sie selbst schon bald zu einem Pantheon der Religionen verkommt.
1Justin, Apologia Major, 2, 1, zitiert nach “Justini Martyris Apologiae pro Christianis,” hg.v. M. Marcovich, Berlin/New York 1994. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden in eigener Übersetzung zitiert.
2Tertullian, Apologeticum, 10,2, zitiert nach “Tertullian Apologeticum”, hg. von Carl Becker, München 4/1992, S. 94
3 Apologia Major, 2,1
4 Apologia Major, 5,4
5 Apologia Major, 6,1+2
6 “semen est sanguis Christianorum”, Tertullian, Apologeticum, 50,13, a.a.O., S. 222
7Apologia Major, 13, 1-3
8Schrift an Diognet, 5, 6-10, zitiert nach “Schriften des Urchristentums” II, hg.v. Klaus Wengst, Darmstadt1984, S, 319f
9Didache 2, 2, zitiert nach “Schriften des Urchristentums” II, hg.v. Klaus Wengst, Darmstadt 1984, S. 69
10 Apologia Major, 21,5
11 Apologia Major, 21,4
12 Apologia Major, 21,6
13 Apologia Minor, 11, 6
14Apologia Major, 27, 1f An späterer Stelle wendet sich Justin selbstverständlich auch gegen das Aussetzen von Kindern, weil sie dadurch zu Tode kommen könnten. “Und zweitens, damit wir nicht zu Mördern werden, wenn eins der ausgesetzten Kinder nicht aufgenommen wird und zu Tode kommt.” (Apologia Major, 29,1)
15 Apologia Major, 29,1
16 Apologia Minor, 12,1
17 Apologia Major, 11, 1f
18 EA, Bd. I, Teil II, S. 342
19 Es würde zu weit führen, diese These, was Karl Barth betrifft, im einzelnen zu belegen. Deutlich aber ist, daß der biographische Wendepunkt, der ihn zum Neuanfang seiner Theologie bewogen hat, einen völlig anderen Charakter hatte als der Luthers. Luther ist durch das Gewittererlebnis auf die Gefährdung seines Lebens hingewiesen worden und hat daher sein ganzes Leben lang danach gefragt, was aus ihm werden würde, wenn er einmal gestorben sein werde. Karl Barth dagegen ist bekanntlich durch die Erfahrung des 1. Weltkriegs und vor allem durch die Tatsache, daß seine theologischen Lehrer die Kriegspolitik Wilhelms II. unterstützt haben, dazu gebracht worden, mit der Theologie, die er gelernt hatte, zu brechen. Er hat folgerichtig sein ganzes Leben lang danach gefragt, welche politischen Konsequenzen ein theologischer Lehrsatz hat und welche nicht. Von der biographischen Genese der jeweiligen Theologie her kann man sagen, daß Luthers Theologie jenseitsorientiert, Barths dagegen diesseitsorientiert war. Vergleiche auch F.-W. Marquardt in „Theologie und Sozialismus – Das Beispiel Karl Barth, München 1972. S. 333: „Wir behaupten vor allem, daß Barths Begriff von Gott an sozialistisch interpretierter gesellschaftlicher Erfahrung gewonnen wurde und in Bezug auf sie auszulegen ist.“
20 Vgl. Nietzsches berühmte „Unzeitgemäße“ Betrachtung von 1874 „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“.
21 Goethe, „Faust“ I
22 Lk 16,8
23 Vgl. Rm 1, 16


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